© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Der Flaneur
Auswendig aufsagen
Albrecht Klötzner

Wortlos schiebt die Tankstellenverkäuferin die Zigarettenschachtel über den Tisch. Meine Marke kennt sie, muß nicht danach fragen. Auch mein freundliches „Guten Tag“ beim Eintritt in ihr Reich hat sie ignoriert. Wie eigentlich immer. Sie hat geplatzte rote Äderchen im Gesicht, was auf reichlich Alkohol schließen läßt und trägt eine schmucklose, offensichtlich billige Brille. Sie ist etwa 50, ihre Oberarme sind sehr dick, und darüber prangt ein griesgrämiges Gesicht.

Es stört mich auch heute nicht. Die Frau tut mir einfach leid, das Leben liebt sie offenbar nicht. Ich lege elf Euro in die Geldschale, nehme fünf zurück, schiebe sie in die Börse, drehe mich weg, um zu gehen. Völlig überraschend fragt sie mich nun: „Möchten Sie vielleicht etwas essen oder trinken?“ Es klingt wie auswendig gelernt. „Nein, danke“, sage ich und schiebe scherzhaft nach: „Ich koche selbst, ist gesünder.“

Dann zeigt sie mir einen Zettel, der für Kunden unsichtbar auf der Theke liegt.

Ihre junge, viel attraktivere Kollegin erklärt mir nun ungefragt und verlegen: „Das müssen wir jetzt immer aufsagen. Weisung vom Chef.“ Dann zeigt sie mir einen Zettel, der vor der Rotgesichtigen, für Kunden unsichtbar, auf der Theke liegt und auf dem genau diese Frage steht. Die mürrische Verkäuferin mault nun zu mir: „Ich komme mir vor wie im Theater. Auswendig lernen soll ich das ...“

Zwei Tage später, meine Zigaretten sind alle, gleiche Situation. Nachdem die Kippen in meiner Tasche verschwanden, sage ich ungefragt und etwas sarkastisch: „Nein, danke, ich möchte weder Bockwurst noch Kaffee.“ Erschrocken sagt das mürrische Gesicht nun: „Das hätte ich jetzt glatt vergessen zu fragen. Aber es wurden Testkäufer angekündigt, die ich nicht kenne und die melden, wenn ich den Kunden nichts zu essen oder trinken aufschwatze. Und dann gibt es einen Ansch... vom Chef. Aber Gott sei Dank sind Sie ja nicht so einer.“ Nun sehe ich sie zum ersten Mal lächeln.

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