© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Wüten gegen die Müllkultur
Lebenstraurig im altmodischen Maßanzug: Der Publizist Fritz J. Raddatz rechnet in seinem zweiten Tagebuch-Band mit der bundesdeutschen Kulturindustrie ab
Thomas Jeschke

Auf dem Keitumer Friedhof hat Fritz J. Raddatz seit langem ein Grab für sich reserviert. Unweit des von ihm ungeliebten, gern als lallender Alkoholiker geschmähten Rudolf Augstein. Aber weil der 2002 verstorbene Spiegel-Herausgeber einmal sein Nachbar auf diesem Totenacker sein wird, schweift gelegentlich der Blick über dessen letzte Ruhestätte. Den am meisten verstörenden Eindruck, den ein Besuch am Ostersonntag 2003 hinterließ, hat FJR im Tagebuch festgehalten. Es sei kein Grab, lediglich eine geharkte Sandstelle mit einer „verpißten Primel“ drauf, so als habe man hier eine „tote Katze verscharrt“ und nicht einen Mann, der als mächtiger Meinungsmacher Nachkriegsdeutschlands Geschichte mitprägte. Noch nie, so der perplexe Raddatz, habe er „ein solches Wegwerfen eines Verstorbenen“ gesehen.

Solches Entsetzen über die Normalität der „Müllkultur“ in der Maßanzug und Einstecktuch sabotierenden Herrschaftskaste liefert viel Stoff für den zweiten, sich von 2002 bis 2012 erstreckenden Tagebuch-Band des einstigen Zeit-Feuilletonchefs, der sich heute als 82jähriger Welt-Kolumnist unter dem Rubrum „Der Nörgler“ ein Zubrot verdient.

Den ersten, 1982 einsetzenden Band (JF 41/10) feierte die Kritik 2010 enthusiastisch als „großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“, dabei lässig übersehend, daß Raddatz auch damals Politik und Wirtschaft aussparte und seine Sondierungen auf die Kulturindustrie begrenzte. Ein Erfahrungsraum, in den er abermals einlädt. Nur verweilt er inzwischen lieber an der Peripherie der Gesellschaft. Ins Zentrum rückt stattdessen die FJR-Egomanie, mit ihren Klagegesängen über Einsamkeit, körperlichen Verfall, erloschene Libido, Depressionen, Todesfurcht.

Das ergibt eine Myriade öder Einträge, eine Suada jämmerlichster Wehleidigkeit. Ein quengelnder seniler Gockel greint, weil ihm der Champagner nicht mundet, die Davidoffs fade schmecken, die mit Demi-Monde-Plunder vollgestopften Luxus-Domizile in Kampen, Hamburg und Nizza das Gefühl, ein „tuntenhaft bösartiger Dandy“ zu sein, nicht verscheuchen. Für die Mitwelt bleibt bei so exzessiver Nabelschau immer weniger Zeit.

Hinzu kommt, daß Raddatz wenig neue Bekanntschaften macht. So muß der Leser mit dem vertrauten Personal, mit Rolf Hochhuth, Günter Grass, Walter Kempowski, Peter Rühmkorf, Peter Wapnewski, Paul Wunderlich, den Asbach-Freundinnen Inge Feltrinelli und Gabriele Henkel sowie dem Lebensgefährten Gerd Bruns vorliebnehmen. Und dieser Kreis lichtet sich seit 2002. Da gleitet man zwangsläufig hinüber zu Selbstbespiegelungen.

Trotzdem kein Grund, das Opus, wie Elke Heidenreich urteilt, als „Desaster“ (FAZ vom 8. März) abzutun. Denn die kulturkritisch verwertbare Ernte fällt zwar bescheidener aus als 2010, aber die einschlägigen Passagen, wie etwa die Momentaufnahme von Augsteins Grab, bieten präzise Beobachtungen, aber vor allem schärfere Polemik als je.

Selbstredend trifft es wieder Erzfeinde wie den „Ersatz-Hindenburg“ Helmut Schmidt oder die 2002 verstorbene, stets auf ihre Nähe zum „20. Juli 1944“ pochende Marion Gräfin Dönhoff mit ihrem „zusammengelogenen/zusammengebogenen Leben“, so daß bei ihren Nachrufern nicht viel gefehlt hätte, um sie „Gräfin Stauffenberg“ zu taufen. Schmidt und Dönhoff, eingetütet mit als Lemuren porträtierten „ungebildeten“ Journalisten wie Frank Schirrmacher („unwahrer Mensch“), Helmut Schmidts Lippendiener Giovanni di Lorenzo, Manfred Bissinger („sprechender Karton“), Helmut Markwort („bedeutungslos“) oder Helmut Karasek („Heizdeckenverkäufer“), zeichnen sich Umrisse einer mediokren „vierten Gewalt“ ab, die kein Korrektiv mehr sein könne zum politischen Establishment, dessen von FJR penibel protokollierte „Verwüstung der Sprache“ hinreichend den Verfall des Gemeinwesens offenbare.

Im Literaturbetrieb steht es sogar weitaus schlimmer. Was Raddatz zum 90. Geburtstag Marcel Reich-Ranickis expliziert. Man versteht, warum Heidenreich, die „unsern Lautesten“ (Eckhard Henscheid) angebetet hat, lieber vollständig auf „lustige Kostproben“ harscher Raddatz-Verdikte verzichtet, als sich womöglich mit einem Zitat aus der ätzenden MRR-Demontage selbst ins „Untertanenvolk“ einzureihen, das wie die Zeit-Feuilletonistin Iris Radisch „knieend“ einen „Literaturpapst“ hofierte, der nach Ansicht aller seit 1949 zu Ansehen gelangten deutschen Autoren „leider von Literatur keine Ahnung“ gehabt habe, der aber virtuos sein jüdisches Schicksal in Marktmacht ummünzte. Wer wollte widersprechen?

Und ist angesichts eines solchen Paten das konstatierte, eben auch zum „Wegwerfen“ der Toten animierende „Niveau einer Zuhälter-Kultur“ hierzulande – wie der an seiner „Altmodischkeit“ leidende FJR die von Hans-Jürgen Syberberg bereits vor dreißig Jahren weitaus wortgewaltiger vorgebrachte Philippika gegen die zwischen Hollywood, New York und Jerusalem triumphierende „Abdecker-Kultur“ repetiert – eine Überraschung?

Raddatz ist, trotz zunehmender Sehschwäche, ein scharfer Beobachter, der allerdings selten analysiert, ein Ästhet, kein Theoretiker. Kann der Tucholsky-Adept seiner frühen „antifaschistischen“ DDR-Sozialisation zufolge auch nicht sein. Als obsessiver 08/15-Mitläufer des den deutschen Reststaat stützenden Schuldkults und williger Parteigänger „in Sachen Israel“ huldigt er daher etwa dem Kinderglauben, die USA seien 1941 „selbstlos“ in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Gleichwohl stecken in seinem Textmassiv Goldkörner als Denkanstöße ohne Zahl.

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 2002–2012. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014, gebunden, 719 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

Foto: Bohlenweg in den Sylter Dünen: Raddatz beobachtet präzise und poltert mit schärfster Polemik

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