© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Stürzende Reiche
Die aktuelle Literatur zum Ersten Weltkrieg verharrt größtenteils bei dem liebgewonnenen Geschichtsbild einer deutschen Hauptschuld
Wolfgang Müller

Obwohl französische und angelsächsische Autoren im Gedenkjahr 2014 auch nicht auf der faulen Haut liegen, ist es doch der deutsche Buchmarkt, auf dem, um im Jargon jener Zeit zu bleiben, die wildeste Materialschlacht zum Thema Erster Weltkrieg tobt.

Wie jedoch häufig bei solchen Anlässen, garantiert Quantität keine Qualität. Zu viele Werke gehören zum Konjunkturschrifttum, bieten nichts Neues, arrangieren lediglich vertraute Interpretationen neu. Wie etwa Brigitte Hamanns Bilderbogen, der mit dem Versprechen lockt, über „Wahrheit und Lüge“ im Völkerringen von 1914/18 ikonographisch aufklären zu können. Doch die verdiente Chronistin des Habsburger Fin de siècle macht es sich bei dieser Zeitreise eher bequem. Gestützt aufs eigene Familienarchiv, illustriert sie ihre lexikalisch knappen Texte vornehmlich mit kolorierten Postkarten, Karikaturen, Plakaten und vielerlei sonstigen Erzeugnissen der bei allen Kriegsparteien gut geölten Propagandaapparate. Erkenntnisgewinne vermitteln die mit diesem buntscheckigen Material von Hamann inszenierten Kontrasteffekte freilich nur Lesern, die sich einen ersten Überblick verschaffen wollen.

An diese Klientel adressiert auch der Düsseldorfer Emeritus Gerd Krum-eich, eine Autorität in Sachen „14/18“, sein Taschenbüchlein über „Die 101 wichtigsten Fragen“ zum Ersten Weltkrieg. Eigentlich begrüßenswert als Kompaß, um auf dem literarischen Ozean der Kriegsdeutungen nicht in Seenot zu geraten. Aber gut gemeint ist auch bei diesem Opusculum das Gegenteil von gut. Denn zweifelhaft ist schon, ob die von Krumeich gestellten wirklich die „wichtigsten“ Fragen zum Thema sind. Zudem finden sich gravierende faktische Irrtümer, die den Verdacht nähren, C.H. Beck, der größte deutsche Verlag für politisch-historische Belletristik, spare sachkundiges Lektorat ein. Was soll man halten von der Angabe, Hindenburg, Pensionär in Hannover, habe 1914 in Ostpreußen gelebt und dank guter Terrainkenntnis eine russische Invasionsarmee bei Tannenberg einkesseln können? Und die Seeschlacht am Skagerrak? Setzte sich die deutsche Flotte am „1. Juli“ – statt korrekt in der Nacht zum 1. Juni 1916 – wirklich „in Richtung deutsche Küste bei Flensburg“ ab? Und wie steht es mit den Opfern der völkerrechtswidrigen britischen Hungerblockade über den Waffenstillstand hinaus? Bis zu deren Aufhebung im Juli 1919 waren das 700.000 Menschen, vorwiegend Alte, Frauen und Kinder. Krumeich weicht solchen Horrorzahlen lieber aus und begnügt sich mit 10.000 Toten „allein in Berlin“ zwischen November 1918 und April 1919.

Eine derartige Mixtur von Wurstigkeit und Faktenkosmetik ist bei Krum-eich die Regel. Aber daraus addiert sich nicht der wesentliche Einwand gegen diesen Text, zu dem Studienräte, Redakteure und andere „Multiplikatoren“ fortan leider zuerst greifen werden. Skandalös ist vielmehr, daß dieser erinnerungspolitisch so rührige Historiker, dem zusammen mit Gerhard Hirschfeld und Irina Renz das seit 2013 in vierter Auflage vorliegende Standardwerk „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“ zu danken ist (JF 13/04), abermals das Potpourri altbundesrepublikanischer Geschichtslegenden offeriert. Nur deren harten Kern, Fritz Fischers These vom langfristig geplanten deutschen „Griff nach der Weltmacht“, verwirft Krumeich. Aber Fischers weniger radikale These vom „unverantwortlichen“ deutschen Agieren während der Julikrise 1914 bleibt in Kraft. Die Berliner Politik habe „ausschlaggebend“ den Weltkrieg „ausgelöst“, so daß Krumeich eine deutsche Hauptschuld wieder einmal festschreibt.

Darin folgt ihm die Nachwuchshistorikerin Annika Mombauer mit ihrer Darstellung der dramatischen vier Wochen zwischen dem Attentat von Sarajevo und der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Schon auf den ersten Seiten ist klar, daß Mombauer, Christopher Clarks Neugewichtung der Schuldanteile mißachtend (JF 42/13), „den größten Teil der Verantwortung für die Eskalation der Julikrise“ Wien und Berlin zuschiebt, wo die „kriegslustigen Militärs“ Politiker und Diplomaten dirigiert hätten.

Tillmann Bendikowski, Leiter einer „Medienagentur Geschichte“, der zuletzt pünktlich zum Friedrich-Geburtstag 2012 mit einer flinken Biographie des großen Preußenkönigs zur Stelle war, glaubt Clark ebenfalls in einer Fußnote abfertigen zu können, wenn er nun mit einem neuen Buch den Markt bedient, das dem „Augusterlebnis“ gewidmet ist. Anhand publizierter Tagebücher von vier Zeitzeugen sowie der Briefe und Aufzeichnungen, in denen Männer seiner Entourage den „Kriegsherrn“ Wilhelm II. porträtieren, will Bendikowski der Legende zu Leibe rücken, die Deutschen wären im Taumel der Kriegsbegeisterung zu einem einig Volk von Brüdern und Schwestern verschmolzen. Pech ist nur, daß die Forschung diese Legende schon vor langer Zeit zerstört hat, wie Bendikowski Jeffrey Verheys Artikel über das „Augusterlebnis“ in der „Enzyklopädie“ von Hirschfeld und Krumeich hätte entnehmen können.

So bekommt der Leser, auf der Folie eines überholten, mit sachlichen Fehlern durchsetzten Deutungsschemas, eine eilig kompilierte, in Zitaten schwelgende Dokumentation in die Hand, die ihren lobenswerten methodischen, bei Walter Kempowski entlehnten Ansatz multiperspektivischer Vergegenwärtigung historischer Ereignisse mit nervigen Belehrungen des Autors konterkariert.

Ein bei weitem höheres Niveau bietet demgegenüber der neben Clark und Herfried Münkler (JF 7/14) wohl beste, mit 1.100 Seiten gewiß aber umfassendste Beitrag zum Gedenkjahr, der aus der Feder Jörn Leonhards stammt. Der Freiburger Neuhistoriker nimmt den Namen „Weltkrieg“ wörtlich und läßt die selten sich auch nur zu eurozentrischer Sichtweise aufschwingenden älteren Darstellungen hinter sich. Entsprechend sind es die vermeintlichen „Ränder“ fern der „Stahlgewitter“ an der Westfront, auf die Leonhards konsequent globalisierendes Epos die Aufmerksamkeit richtet. Als Fachmann für „multiethnische Imperien“ kann er hier sein Talent zu vergleichenden Analysen von vielschichtigen „Handlungslogiken“ unter Beweis stellen.

Eindrucksvoll schildert er, wie sich etwa das britische Empire unter dem Druck, den der Krieg in den Kolonien erzeugte, in Richtung Auflösung zu wandeln begann, wie die Eliten des Osmanischen Reiches aus panischer Angst vor dem Machtzerfall den Völkermord an den Armeniern in Angriff nahmen, welche nationalistischen Fliehkräfte den habsburgischen Vielvölkerstaat bedrohten, wie der Krieg das Zarenreich zum Einsturz brachte.

Dank dieses weiten Horizontes emanzipiert sich Leonhard von den volkspädagogisch verengten deutschen Forschungspositionen. Das schafft Distanz, steigert Komplexität und vermittelt ein erfrischend neues Bild der Weltkriegsgeschichte.

Es nimmt dem Thema aber zugleich die letzte, gerade im Streit um die „Schuldfrage“ noch konservierte Relevanz als Bezugspunkt im kollektiven Gedächtnis der Nation. Insofern verabschiedet dieses zu neuen Ufern strebende Kompendium den herkömmlich politisierten Erinnerungsdiskurs, ganz im Sinne der Bundesregierung, die entschlossen ist, „100 Jahre Erster Weltkrieg“ genauso dickfellig zu ignorieren wie sie es 2013 mit „200 Jahre Befreiungskriege“ tat. Eine Nation in Auflösung benötigt keine Geschichte mehr.

Brigitte Hamann: Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten. Piper Verlag, München 2014, gebunden, 191 Seiten, Abbildungen, 19,99 Euro

Gerd Krumeich: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen. Verlag C. H. Beck, München 2014, broschiert, 150 Seiten, Abbildungen, Karten, 10,95 Euro

Annika Mombauer: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg.Verlag C. H. Beck, München 2014, broschiert, 128 Seiten, Karten, 8,95 Euro

Tillmann Bendikowski: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten. C. Bertelsmann Verlag, München 2014, gebunden, 464 Seiten, 19,99 Euro

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. C. H. Beck, München 2014, gebunden, 1.157 Seiten, Abbildungen, 38 Euro

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