© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Großzügigkeit für Europa
Zwei Journalisten wollen der Frage auf den Grund gehen, wer Europa wirklich regiert und kommen zum überraschenden Schluß: Angela Merkel
Ansgar Lange

Dieser vermeintliche Blick durchs Brüsseler Schlüsselloch liest sich streckenweise so zäh wie Kaugummi. Schon der Titel des Buches heischt nach Aufmerksamkeit: „Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert“. Überraschungen bietet das Werk nicht. Wen wundert es denn, daß in Brüssel nicht viel passiert, was nicht auf die Weisung der EU-Staats- und Regierungschefs zurückgeht? Daß Berlin die eigentliche Hauptstadt Europa sein soll, liest sich wie ein Vorwurf und ist ein Treppenwitz in einer Zeit, in der Deutschland zur Übernahme von mehr Verantwortung und Führung in Europa aufgefordert wird.

Cerstin Gammelin (Süddeutsche Zeitung) und Raimund Löw (ORF) wollen erkennbar einen journalistischen Coup landen. Da paßt es gut, daß im Mai dieses Jahres die Bürger in den 28 EULändern zur Wahlurne gehen. Ob die beinahe 400-Seiten-Schwarte im Jahr der Europawahlen „ein unverzichtbares Buch“ darstellt, muß mit einem Fragezeichen versehen werden. Aufmerksamkeit ist jedenfalls garantiert.

Die beiden Autoren haben sich eine Menge vorgenommen. Sie beschreiben die politischen Allianzen in Europa, widmen sich der Bankenrettung, nehmen die Brüsseler Gesetzgebung ins Visier, beleuchten die Rolle der Medien, untersuchen die europäische Außenpolitik und arbeiten sich an Angela Merkel, der europäischen „Monarchin“ ab. Sie stützen sich dabei auf streng vertrauliche Protokolle vergangener EU-Gipfel. Dies macht die Lektüre nicht immer spannender, und zur Erhellung tragen sie auch nicht viel bei. Erkennbar schreiben die beiden eher linken Journalisten gegen Angela Merkel an, die in Deutschland den sozialdemokratischen Konsens pflege, in Europa aber knallhart deutsche Interessen vertrete. Sollte dieser Befund stimmen, so müßte man sagen: Damit verhält sich die Kanzlerin nicht anders als die übrigen Staats- und Regierungschefs. Denn Nationen pflegen nun einmal keine Freundschaften, sondern vertreten ihre ureigenen Interessen. Nur bei uns scheint dies ein wenig aus der Mode gekommen zu sein.

Geradezu rührend liest sich der Appell: „Die Nationen Europas müssen großzügig miteinander umgehen, um zusammenleben zu können.“ Bei der Lektüre beschleicht einen zunehmend der Verdacht, daß dieses Rezept vor allem den ökonomisch schwächeren Südländern zugute käme. So plädieren Gammelin und Löw für eine einheitliche europäische Sozial- und Lohnpolitik. Auch eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung halten sie für unverzichtbar. Angeblich hat Deutschland bisher finanziell von der Krise des Euro nur profitiert: „Deutsche Staatsanleihen sind begehrt. Italienische und spanische weniger. Zwischen der Bundesrepublik und anderen Staaten Europas wächst rein volkswirtschaftlich ein immer tieferer Graben.“

Aus Sicht der Südländer ist es interessenpolitisch nur vernünftig, immer mehr Europa zu fordern. Eine EU als Schuldenunion mit Länderfinanzausgleich bringt Griechenland, Italien und Spanien viel, Deutschland aber wenig. Ob die beiden Autoren mit ihrer Schelte gegenüber den angeblich hartherzigen Nordländern mit der besonders eiskalten „Merkiavelli“ (Ulrich Beck) an der Spitze wohl mehr Europabegeisterung schüren werden? Vielleicht dann, wenn diese vergessen, daß sich das Sparen wegen der Minizinsen kaum noch lohnt und die Vermögensverteilung in Europa Deutschland ein ganz schönes Stück ärmer erscheinen läßt.

Als Strafe für ihre jahrelange Lohnzurückhaltung und ihre wettbewerbsfähigere Wirtschaft sollen die Deutschen nun auch noch mit Eurobonds und einem europäischen Lastenausgleich bedacht werden. Angesichts dieser trüben Aussichten kann sich kein verantwortlicher deutscher Politiker mehr die Vereinigten Staaten von Europa wünschen. Ursula von der Leyen tut es dennoch in betonter Offenheit.

Entgegen der Wunschgebilde von Intellektuellen wie Robert Menasse oder Jürgen Habermas ist das Europa der Vaterländer tagtägliche Realität. Und dies ist auch gut so. Wer dieses Buch wutschnaubend oder auch nur zähneknirschend aus der Hand legt, sollte zu Dominik Gepperts Studie „Ein Europa, das es nicht gibt“ greifen. Dessen Leitbild einer offeneren, vielseitigeren und dezentraleren EU dürfte dem Wunsch der meisten deutschen Bürger und Wähler viel mehr entsprechen als der durchsichtige Versuch von Gammelin und Löw, in einem Immer-mehr an Europa ein Allheilmittel zu sehen. Abseits dieser Unterschiede kommt in beiden Büchern zum Ausdruck: Der Euro hat Europa mehr Fluch als Segen bereitet. Er ist zu einer Gefahr für den Kontinent geworden, weil die Währung lange verschüttet geglaubte Ressentiments ans Tageslicht befördert hat.

Cerstin Gammelin, Raimund Löw: Europas Strippenzieher. Wer in Brüssel wirklich regiert. Econ Verlag, Berlin 2014, gebunden, 384 Seiten, 19,99 Euro

Foto: Die Kontrolle des Eurokraten: Ein Immer-mehr an Europa als Allheilmittel sehen

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