© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/14 / 21. März 2014

Wo Himmel und Erde sich berühren
Kunstgeschichte: Was Giorgiones Gemälde „Gewitter“ mit einem fruchtbaren Miteinander von Mann und Frau zu tun hat / Ein Deutungsversuch
Rudolf Otten

Es ist eines der rätselhaftesten Bilder der Renaissance: Das „Gewitter“ des venezianischen Malers Giorgione. Von über 60 Deutungsversuchen vermochte bisher keiner zu überzeugen. Hat uns das „Gewitter“ heute dennoch etwas zu sagen?

Inmitten der Wirren des Zweiten Weltkrieges, im besetzten Frankreich des Jahres 1944, entwarf der heute weitgehend vergessene Dramatiker Jean Giraudoux eine Vision vom Untergang der Welt. Es sind aber nicht die Bomben und Geschütze der deutschen Truppen, die den Untergang der Zivilisation bringen, nein, die Zerstörung der Welt schreitet bei ihm stiller einher: Es ist das Auseinanderbrechen der liebenden Beziehung von Mann und Frau in „Sodom und Gomorrha“, das beiden Städten ihr Ende bereitet. Allein die Versöhnung des zerstrittenen Paares Jean und Lia vermag die „himmlische Katastrophe“ noch abzuwenden. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Drama des französischen Schriftstellers und dem Rätselbild des Venezianers?

Das Bild muß in eine Erzählung überführt werden

Das Terrain um Giorgione (geboren 1478 in Castelfranco, gestorben 1510 an der Pest in Venedig) ist überaus unsicher. Seine wenigen authentischen Bilder bleiben bis heute verschlüsselt, allen voran das „Gewitter“ (Galleria dell’ Accademia, Venedig). Was man auf ihm sieht, ist ebenso einfach wie mystisch:

Ein vornehm gekleideter Mann mit Pilgerstab fängt den Blick des Betrachters ein. Mit seiner Linken hält er eine rote Jacke zurück und gibt so die Sicht auf die Schamkapsel seiner eng anliegenden Hose frei. Eindringlich schaut er über einen Bach hinüber zu einer typisch venezianisch frisierten blonden Schönheit. Diese sitzt, die Beine vorsichtig gespreizt, auf einem weißen Tuch, das sie und ein nacktes Kind umhüllt. Sie stillt das neben ihr stehende Kind.

Hinter den beiden beginnt in rhythmischem Wechsel eine Kulisse aus dichter Natur und Gebäuden. Direkt über der Frau erhebt sich ein Baum, vielleicht eine Korkeiche. Sein Stamm teilt sich auffällig in zwei mächtige Äste. Ein Stadttor der Uferszenerie trägt das zum Geschlecht der paduanischen Carrara gehörige Wappen, weiter in der Ferne zeigt ein Turm den Markuslöwen, das Wappen der Lagunenmetropole Venedig.

Zum Horizont hin tragen die Gebäude die typisch venezianischen Schornsteinköpfe. Beschlossen wird die Linie durch einen Kirchenbau. Auffällig sind einige architektonische Besonderheiten, gerade auf der linken, dem Mann zugehörigen Bildseite: Rätselhaft erscheint ein großer, geschlossener Klinkerblock mit Bauschmuck, rechts davon zwei halbe Säulen auf einem Postament. Verbunden werden die beiden Bildhälften durch eine hölzerne Brücke im Mittelgrund, die zum Stadttor mit dem Carro-Wappen führt. Über allem steht weich und wenig bedrohlich der Blitz.

Doch was geschieht eigentlich in dem Bild? Zur Entschlüsselung muß es von einer statischen Ebene in ein Narrativ, eine Erzählung, überführt werden: Der Mann wirbt offensiv um die Frau, wie seine Haltung verrät. Die Frau ist in ihrer Körper- und Beinhaltung ihm zugewandt. Sie nimmt sein Werben an, oder besser: Sie hat es schon getan. Das Tuch und ihr reinigendes Bad, das sie offensichtlich gerade genommen hat, weisen noch auf die Geburt des Kindes hin.

Das Kind selbst wird noch gestillt, ist aber schon hineingestellt in eine Bildabfolge, die zunehmend von Zivilisation geprägt wird. Der Lógos menschlicher Zivilisation hebt mit dem Turm am rechten Bildrand an, wird von üppiger Vegetation unterbrochen und entwickelt sich am Uferrand entlang zur Stadt, zu Padua, der älteren, und schließlich zu Venedig, der meravigliosa, der wunderschönen.

Am Ende dieser Liebesgeschichte von Mann und Frau, wo Himmel und Erde „sich berühren“, kommen mit dem Tempel Jerusalems – ähnliche Zentralbauten zeigen zur gleichen Zeit Perugino und Raffael als Tempel in Jerusalem – die civitas terrena und die civitas caelestis zur Deckungsgleichheit: Das himmlische Jerusalem ist in die venezianische Republik eingegangen und Wirklichkeit geworden, die Schornsteinköpfe links und rechts des Tempels verraten es.

Es bleibt der Blitz, der bis heute keine zufriedenstellende Bedeutung gefunden hat: Er führt – und es kann nur verwundern, daß dies bislang unbeachtet blieb – in der Verlängerung genau auf die Genitalien des Mannes, die dieser so schamlos zur Schau stellt. Der Blitz steht für den göttlichen Zeugungsakt, die universale, Leben spendende Kraft Gottes. Für diese Ikonographie hat sich seit der Antike eine Fülle von Zeugnissen erhalten, wie der Theologe Wolfgang Speyer schon vor längerer Zeit gezeigt hat.

Der Weg aus der Wildnis in die Zivilisation

Giorgione schiebt in seinem „Gewitter“ die Zeitebenen übereinander: Alles passiert gleichzeitig und ist doch zugleich noch ungeschehen: Der Mann wirbt noch um die Frau, doch das Kind ist schon geboren. Der Zeugungsakt findet als Blitz noch statt, da ist die civitas caelestis schon vollendet. Diese Synchronie der Ereignisse hat das „Gewitter“ so lange unlesbar gemacht.

Ist dies alles zu weit hergeholt? Wollte Giorgione nicht vielleicht doch einfach nur ein harmonisches und irgendwie rätselhaftes Bild malen? Es kann nur erstaunen, daß diese erotischen und zivilisatorischen Bildkomponenten in den vielen Vorschlägen zur Deutung des „Gewitters“ bisher kaum Beachtung gefunden haben. Allein das statische, gleichsam auf ewig angelegte Miteinander von Mann und Frau im Bild muß den Gedanken aufkommen lassen, daß der Kontext der neuplatonischen Liebesphilosophie nicht weit entfernt ist.

Im Jahr 1505 erschien bei dem bekannten Buchdrucker Aldus Manutius der Liebesdialog „Gli Asolani“, die „Gespräche von Asolo“, des späteren Kardinals Pietro Bembo: Drei vornehme Damen und ebenso viele gebildete Männer disputieren in den Gärten der ehemaligen Königin von Zypern, Caterina Cornaro, über das Thema „Liebe“. Einer von ihnen, Gismondo, schildert anschaulich den Weg des Menschen aus der Wildnis in die Zivilisation, was er der Gnade Amors zuschreibt.

Hören wir ihm kurz zu: „In dieser neuen Welt breitete sich die Liebe nach und nach aus, und mit der Liebe blühten die Künste auf. Zum ersten Mal erkannten die Väter ihre Kinder unter denen der anderen, die erwachsenen Kinder ehrten ihre Väter, und unter dem süßen Joch der heiligen Ehe schritten Mann und Frau durchs Leben, einander in schamhafter Ehrbarkeit verbunden. Die Dörfer schmückten sich mit neuen Häusern, die Städte schmückten sich mit Mauern, und Gesetze verteidigten die guten Sitten.“

Und weiter wird ihm die Liebe zur coincidentia oppositorum, zum Zusammenfall der Gegensätze: „Die ganze Welt – ein großartiges allumfassendes Räderwerk, das wir mit der Seele besser begreifen als mit den Augen – bestände nicht lange und hätte nicht lange Bestand gehabt, wäre sie nicht von der Liebe erfüllt, die alles durch ihr Band zusammenhält und die Gegensätze vereint. Alles entspringt also der Liebe, wie ihr seht (…) und folglich erst recht alles Gute.“

Mit Kulturpessimismus hat das nichts zu tun

Humanisten und Literaten bevölkerten das Venedig des frühen Cinquecento, mit Dürer, Bembo und Kardinal Bessarion seien nur die wichtigsten genannt. Ob Giorgione ihre Lehren kannte? Alles deutet darauf hin: Das „Gewitter“ und die Asolani sind zur selben Zeit am gleichen Ort entstanden – das Bild wird zwischen 1505 und 1509 datiert – sie atmen den gleichen Geist: Die von Gott geschenkte Liebe des Mannes findet erst mit und durch die Frau ihre Vollendung im Kind. Hier liegt der metaphysische Ursprung jeder Zivilisation, die schließlich in die civitas Dei, das himmlische Jerusalem, mündet. Für Giorgione – oder seinen Auftraggeber – in der venezianischen Republik auf Erden verwirklicht.

Wo die Grundlagen dieser Zivilisation verlorengehen, da sind „Sodom und Gomorrha“ nicht mehr fern. Mit einem metaphysischen Kulturpessimismus irgendeiner Couleur hat diese Deutung nichts zu tun. Weder den Verfassern des Alten Testaments noch Giorgione war ein Kulturpessimismus à la Spengler bekannt.

An dieser Stelle schließt sich auch bei Giraudoux der Kreis: Bei ihm vermochten Mann und Frau, Jean und Lia, nicht wieder zueinander zu finden: „Alle werden vom Blitz erschlagen“, heißt es in der Regieanweisung seines Dramas. Giorgiones „Gewitter“ wird in unserer Zeit so zu einem Gegenentwurf, einer Mahnung: Eine civitas caelestis auf Erden, sofern sie denn gewollt wäre, ließe sich allein im fruchtbaren Miteinander von Mann und Frau denken. Dessen war sich der Maler aus Castelfranco bewußt. Die dramatische Aktualität, die sein Entwurf zu Beginn des 3. Jahrtausends bekommen würde, konnte er im Venedig des frühen Cinquecento noch nicht erahnen.

 

Rudolf Otten studierte Klassische Philologie (Latein) und Geschichte in Bonn und arbeitet heute als Lehrer an einem privaten Gymnasium. Von ihm erschien kürzlich das Fachbuch „Giorgiones ’Tempesta’ im Kontext der venezianischen Liebesphilosophie des Cinquecento – Die Geburt der Zivilisation“ (Grin-Verlag).

Foto: Giorgione, „Das Gewitter“, Öl auf Leinwand, um 1508: Der Mann wirbt offensiv um die Frau, wie seine Haltung verrät, sie ist ihm zugewandt, der Blitz steht für den göttlichen Zeugungsakt

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