© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/14 / 21. März 2014

Kein Lebendiges ist ein Eins
Insektenforschung: Der US-Ethologe Thomas D. Seeley führt ins Wunderland der Bienengesellschaf
Jürgen Vollmer

Wer Bienen nicht allein als Honigproduzenten schätzt, assoziiert mit diesen sechsbeinigen Schönheiten vielleicht auch den Namen des Nobelpreisträgers Karl Ritter von Frisch. Dieser Zoologe, der 1982 fast hundertjährig starb, begann 1920 seine bahnbrechenden Experimente zur „Bienensprache“, die er 1944 mit der Entdeckung ihrer Fähigkeit krönte, Artgenossen tanzend Informationen über Nahrungsquellen mitteilen zu können.

Der legendäre „Bienenvater“ Karl von Frisch, in den Dreißigern Mitbegründer der international führenden deutschen Verhaltensbiologie, hat auch die inzwischen neurophysiologisch-genetisch verfeinerte US-Ethologie beeinflußt. Frischs Enkelschüler, der Ameisenexperte Bert Hölldobler, leistete von 1973 bis 1990 in Harvard „Entwicklungshilfe“ in Sachen Tierverhaltensforschung und förderte den Doktoranden Thomas D. Seeley, der heute, als Professor an der Cornell University (New York), zu den Koryphäen der Bienen-Forschung zählt.

Wie tief sich Seeley der deutschen Tradition seiner Disziplin verbunden weiß, bekundet sein dem 2008 verstorbenen Frisch-Schüler Martin Lindauer gewidmetes jüngstes Werk über „Bienendemokratie“. 2010 in den USA veröffentlicht, jetzt in deutscher Übersetzung vorliegend, vereint es seine in vielen Fachorganen versteckten Untersuchungen über das „Wunderland der Bienengesellschaft“. Seeley steht hier überall auf dem „festen Fundament“ von Lindauers Pionierstudie „Schwarmbienen auf Wohnungssuche“ (1955), die das von Frisch erschlossene Wissen über das Kommunikationssystem des Bienenkollektivs erheblich erweiterte.

Mit raffinierten Versuchsanordnungen ist Seeley schon als Schüler der Frage nachgegangen, wie Honigbienenschwärme, die ihren alten Stock verlassen müssen, eine neue Behausung finden. Und zwar eine optimale, die also so gelegen ist, daß ihnen Freßfeinde nichts anhaben können, und die groß genug ist, um Honigvorräte zu fassen, die ein Überleben im Winter garantieren.

Der Schwarm ist organisiert wie ein menschliches Gehirn

Wie des Autors Freilandstudien beweisen, irrten sich die Insekten, die 100 Millionen Jahre Entwicklungsgeschichte hinter sich haben, bei ihrer Wahl fast nie. Sie bezogen nur jene Nistkästen, die einen Hohlraum zwischen 15 und 40 Litern, ein möglichst kleines Eingangsloch und eine Entfernung zum Erdboden von mindestens fünf Metern boten. Wie stellen aber die Kundschafter-Bienen des Schwarmes diese Abmessungen fest? Warum ignorierten sie andere Kriterien wie zugige Ritzen oder den Schock kurzzeitiger Gefangenschaft während ihres Erkundungsflugs?

Die Antworten Seeleys münden in der Behauptung vom „genetisch festgelegten Maßstab“. Kurze Flüge in der zu prüfenden Nisthöhle und das Begehen ihrer Wände liefern der Honigbiene sensorische Reize, die ein genetisch determiniertes Erwartungsschema bestätigen und ein „Gespür für die Gesamtqualität“ des potentiellen Quartiers evozieren. Mit diesen Informationen kehren dann Hunderte von Kundschafterinnen zum Schwarm zurück, um durch tänzelnde Bewegungen für ihre Entdeckungen zu werben. Die Intensität des Tanzes korreliert dabei mit der Qualität der „besichtigten“ Orte. Kundschafterinnen, die in engen und niedrigen Höhlen waren, führen daher nur wenige Tanzrunden auf. Am Ende einer mitunter Tage dauernden Präsentation der „Vorschläge“ steht die im Konsens getroffene Entscheidung für die optimale Lösung.

Das fest verankerte Vorurteil, der „Bienenstaat“ sei monarchisch und ständisch-hierarchisch organisiert, weil es eine Königin, wenige schmarotzende männliche Drohnen und ein Heer von Arbeiterinnen gebe, ist mit Seeleys Ausführungen über die „basisdemokratische“ Nistplatzsuche relativiert und rehabilitiert zugleich die soziale Kompetenz der „Masse“. Zumindest bei der über Tod und Leben entscheidenden Wahl winterfester Behausungen dominiert die „Schwarmintelligenz“ der „demokratischen Gruppe“, die keinen „Anführer“ und keine „absolute Herrscherin“ benötigt.

Von verständlicher Faszination durch kollektive Bienenintelligenz ermuntert, schlägt Seeley in den letzten Kapiteln eine Brücke zur Menschenwelt. So soll der „Superorganismus“ des Schwarms ein „kognitives Ganzes“ sein, das Informationen nach ähnlichem Muster verarbeitet wie das Gehirn von Primaten – einschließlich des Menschen: „In beiden Fällen schaffen sensorische Einheiten innerhalb des Systems Repräsentationen der Außenwelt.“ Und in beiden Fällen erfolge die Datenverarbeitung im Wettbewerb zwischen Integratoren, die Informationen bündeln. Die Entscheidung falle im Schwarm bei den als Integratoren fungierenden Kundschafterinnen, im Hirn bei den Neuronen des Scheitellappens, wenn die angesammelten Anhaltspunkte einen Schwellenwert erreichen. Die Evolution habe mithin den sozialen Insekten und dem Menschenhirn intellektuelle Kraft in Form grundsätzlich ähnlicher Mechanismen dezentraler Informationsverarbeitung „eingepflanzt“.

Diese strukturelle Konvergenz verführt Seeley schließlich zur Empfehlung, die politische Organisation menschlicher Sozialverbände an einem derart evolutionär bewährten Modell auszurichten. Zumal seit 300 Jahren, ohne diese erst seit kurzem verfügbare ethologisch-neurobiologische Legitimation, die Bürgerversammlungen Neuenglands danach handeln.

Einmal abgesehen davon, daß von 10.000 Tieren pro Schwarm bei der „Abstimmung“ nur fünf Prozent, die Kundschafterinnen, den Ausschlag geben, also hier keine „Basisdemokratie“ besteht, ist das Verfahren nicht „ergebnisoffen“, da die Honigbienen genetisch auf die optimalen Abmessungen einer Nisthöhle fixiert sind, der erzielte Konsens mithin „alternativlos“ ist. Eine solche von Seeley als vorbildlich gepriesene „Demokratie der Einheit“ gliche in ihrer menschlichen Variante wohl weniger den neuenglischen „town meetings“ als den „Volksdemokratien“ unseligen Angedenkens.

Thomas D. Seeley: Bienendemokratie. Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir lernen können. S. Fischer Verlag, 2014, gebunden, 318 Seiten, 22,99 Euro

Fotos: Bauketten aus Bienen: Wenn neue Waben angelegt oder defekte Waben ausgebessert werden sollen, bilden Bienen Ketten und verhaken sich gegenseitig mit ihren Beinen; Schwänzeltanz der Honigbiene: Schwarmintelligenz nach Art von Bürgerversammlungen oder eher von „Volksdemokratien“?

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen