© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

„Patron eines christlichen Europa“
Er war der Schöpfer des Abendlandes: Karl der Große. Deshalb ist er heute unbequem. Stefan Weinfurter, der jüngst eine wegweisende Karls-Biographie vorgelegt hat, über den Ausnahme-Kaiser und den Kampf um dessen Deutung
Moritz Schwarz

Herr Professor Weinfurter, warum will man heute von Karl dem Großen nichts mehr wissen?

Weinfurter: „Nichts mehr wissen“ kann man nicht sagen. Historisch ist er nach wie vor von großem Interesse, nur politisch ist er nicht mehr so recht en vogue.

Ist die Erinnerung an Karl im Jubiläumsjahr 2014 mehr als historisches Gedenken?

Weinfurter: Auf jeden Fall! Es gibt viele Dinge aus seiner Zeit, mit denen wir heute noch täglich konfrontiert sind.

Zum Beispiel?

Weinfurter: Zum Beispiel die Schrift, mit der wir noch heute schreiben und die wir als „die“ internationale Schrift weltweit antreffen. Es ist jene, die sich unter Karl dem Großen entwickelt hat, die karolingische Minuskel. Wir nennen sie heute „Lateinische Schrift“, weil die Humanisten sie so benannt haben. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß sie im „barbarischen“ und „dunklen“ Mittelalter entstanden ist. Irrtum – und eigentlich müßte sie „Karolingische Schrift“ heißen!

Ist das denn so bedeutend? Schrift gab es doch schon vorher.

Weinfurter: Stimmt, doch hatten sich zur Zeit der „Völkerwanderung“ so viele komplizierte und verwirrende Unterarten gebildet, bis bald jeder seine eigene Schrift hatte. Eine klare, einfache, zweckmäßige, leserliche und vor allem einheitliche Schrift gab es jedoch nicht. Eine solche aber war Voraussetzung dafür, die Dinge in Europa zu vereinheitlichen.

Warum war das wichtig?

Weinfurter: Das ist die Frage, die direkt zum Kern der Herrschaft Karls führt: Das metaphysische Ziel seiner Herrschaft war die „Vereindeutigung“ der Welt.

Ein Begriff, den Sie in die Karlsforschung eingeführt haben.

Weinfurter: Wenn es Karl um die Richtigkeit und Eindeutigkeit des gesprochenen und geschriebenen Wortes geht – dann geht es ihm auch darum, eine richtige und eindeutige Ordnung der Welt zu schaffen. Im Johannesevangelium heißt es: Am Anfang war das Wort und das Wort ist Fleisch geworden. Das ist es! Das Wort ist das Entscheidende, das Wort hat die Wahrheit gebracht. Eindeutigkeit, so Karls Vorstellung, ist die Voraussetzung für Wahrheit und Wirksamkeit. Wenn etwa ein Taufspruch wegen mangelnder Lateinkenntnisse des Priesters falsch gesprochen wird, dann kann er auch keine Wirksamkeit haben. Deshalb muß er korrekt sein, deshalb braucht es Bildung, damit die „Welt“ funktioniert. Wirksamkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit münden alle in die Frage nach dem Richtigen und deshalb muß es einheitliche Standards geben. Auch in der Schrift. Nur so kann richtig und falsch, wahr und unwahr, gut und böse unterschieden werden. Das ist Karls Überzeugung. Damit legt er, wenn auch religiös motiviert, die Grundlage für das spätere wissenschaftliche Denken in der europäischen Kultur. Und dieses Programm Karls mündet in die berühmte „Karolingische Renaissance“, die erste Renaissance der Geschichte.

Dann heißt diese nicht nur so, weil sie zu Karls Zeit stattgefunden, sondern weil er selbst sie angestoßen hat?

Weinfurter: Über den Anteil Karls wird viel diskutiert. Aber zweifellos hat er dem Prozeß durch seine Impulse zum Durchbruch verholfen. Er ist es, der die großen Gelehrten des damaligen Europa zu sich holt, der immer wieder neue Anstöße gibt. Und er zeigt sich auch selbst wißbegierig, geht mit gutem Beispiel voran, lernt lesen und Sprachen – nur Schreiben nicht. Karls Bildungsreform vollzieht sich unter dem Rückgriff auf die Antike. Auf diese Weise wird deren ganzer Bildungshorizont in das europäische Abendland vermittelt. Ohne Karl wüßten wir heute sehr wenig von den antiken Autoren, Dichtern, Philosophen. Denn die antiken Texte waren auf Papyrus geschrieben und wären ohne die Pergament-Kopien aus Karls Zeit inzwischen verloren.

2013 gab es in der ARD einen großen Doku-Dreiteiler über Karl zur besten Sendezeit. Dort war von all dem allerdings nur wenig zu sehen. Karl wurde vor allem als tumber und gewalttätiger Choleriker vorgestellt, von dem sich der Zuschauer nur mit Grausen abwenden konnte.

Weinfurter: Ich muß vorausschicken, daß ich nur Ausschnitte der Sendung kenne. Natürlich war Karl gewalttätig. Darin unterschied er sich nicht von anderen Herrschern seiner Zeit. Was ihn dagegen hervorhebt, ist seine kulturelle Leistung. Daher halte ich es für berechtigt, daß wir – ohne die gewaltvolle Seite auszublenden – ihn vor allem dafür im Gedächtnis behalten. Zu bedenken ist auch, daß damals nur ein erfolgreicher, gegebenenfalls auch ein gewalttätiger Heerführer Anerkennung als Herrscher fand. Denn Kriege gab es ständig. Ein starker Herrscher wußte diese erfolgreich zu führen und so seinem Reich Sicherheit zu geben. Aus der Sicherheitslage des heute friedlichen Europa heraus sollte man nicht urteilen – ich halte es für fragwürdig, früheren Herrschern diese damals einzige wirksame Sicherheitsstrategie vorzuwerfen. Dazu kommt, daß erfolgreiche Kriegszüge auch integrative Wirkung hatten für ein so großes Reich, das ja kein einheitliches Staatsvolk kannte. Erst der Erfolg einte die Völker zu einem Frankenreich.

Fazit: Man kann sagen, mit seiner kulturellen Mission hat Karl der Große Germanentum und Römertum verschmolzen?

Weinfurter: Das kann man so sagen, allerdings spielt das Germanentum bei ihm keine große Rolle.

Er sorgte dafür, daß seine germanischen Völker mit antiker Kultur und Christentum durchtränkt werden.

Weinfurter: Das stimmt, die romanische Kultur suchte er seinen Untertanen einzuimpfen, wo er nur konnte.

Karl wird heute vor allem auch mit der Eroberung und blutigen Zwangsbekehrung der Sachsen assoziiert. Ging es ihm nur um Herrschaft – oder wirklich um den christlichen Glauben?

Weinfurter: Mission war damals nicht etwa nur ein Deckmäntelchen für Expansion, nein, beide bildeten eine untrennbare Einheit. Karl war auf seine Weise zutiefst erfüllt vom Christentum. Ja, er erstrebte aus echter Überzeugung ein Gottesreich auf Erden – zumindest wollte er diesem Modell nahekommen. Die antiken Kaiser hatten zwar am Ende das Christentum schon zur Staatsreligion erhoben, aber Roms Gesetze waren älter und vor allem säkular. Mit Karl sollten nun zum ersten Mal in der Geschichte die göttlichen Gebote des Christentums zur Grundlage politischer und gesellschaftlicher Ordnung werden.

Also hat Karl der Große tatsächlich das christliche Abendland geschaffen?

Weinfurter: Das könnte man so sagen – wenn wir wüßten, was das Abendland ist.

Verschmelzung von Germanentum, Christentum und Antike.

Weinfurter: So hätten das meine Lehrer auch definiert. In diesem Sinne: Ja. Allerdings, der Begriff „Abendland“ wird heute nicht mehr gern verwendet.

Warum?

Weinfurter: Da schwingt für uns ein überheblicher Anspruch mit: Europa als überlegene Zivilisation, die sich über andere Kulturen erhebt und abgrenzt.

Wir predigen der Welt doch unsere Werte: Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft.

Weinfurter: Gleichwohl, die Vorstellung von Europa als einem kulturellen und zivilisatorischen Vorsprungskontinent gilt uns heute nichts mehr. Hinzu kommt die betont christliche Konnotation des Begriffs Abendland – das scheint uns unvereinbar zu sein mit einem Kontinent, auf dem auch immer mehr Juden, Atheisten und vor allem Muslime leben. „Abendland“ paßt nicht mehr zu unserer modernen Sehnsucht nach einer transkulturellen Gesellschaft.

Dann wäre Karl der Große ein Oppositioneller.

Weinfurter: Inwiefern?

Er steht für ein alternatives Europa.

Weinfurter: Ich halte nichts davon, eine historische Figur heute politisch in Stellung zu bringen.

Darum geht es nicht, sondern darum, wofür der historische Karl steht und in welchem Verhältnis diese Werte zu unseren stehen. Die Opposition ergibt sich von allein.

Weinfurter: Es stimmt schon, daß unter Karl um Eindeutigkeit gerungen wurde, während wir heute eindeutige Antworten eher meiden. Unter uns hat längst die Überzeugung Platz gegriffen, daß es ebenso viele Wahrheiten gibt wie Kulturen, denen wir uns öffnen möchten. Und Eurozentrismus wird heute ebenso wie die Kategorie der Nation von den meisten Historikern zu den Verirrungen in der Geschichtswissenschaft gezählt.

Gleichwohl wird Karl für EU-Europa in Anspruch genommen. Etwa in Gestalt des seit 1950 verliehenen Karlspreises, der wohl bedeutendsten „europäischen“ Auszeichnung, die hierzulande verliehen wird.

Weinfurter: So ist es, allerdings hat der Karlspreis heute nicht mehr die Bedeutung wie noch zu Beginn. Aber es ist richtig, daß Karl nach 1945 als eine Art Vater eines vereinten Europa und einer deutsch-französischen Aussöhnung positioniert wurde. Tatsächlich aber verehren die Franzosen traditionell einen ganz anderen Karl als die Deutschen.

Inwiefern?

Weinfurter: In Frankreich ist Karl viel nationaler als bei uns. Den Franzosen gilt er als ihr erster König, als Begründer Frankreichs. Schon im 11. und 12. Jahrhunderte wurde er dort zu einem Franzosen umgewandelt. Bezeichnend ist, daß sein Reiterstandbild in Paris seit 1882 gegenüber der Kirche Notre-Dame im Herzen von Paris steht – ein Zeichen nationaler Selbstbehauptung.

Und in Deutschland?

Weinfurter: Obwohl es natürlich auch bei uns Standbilder von ihm gab und gibt und Bismarck sogar einen Karl auf dem Niederwalddenkmal bei Rüdesheim plante, sucht man ihn in der deutschen Hauptstadt vergebens. Für die Deutschen ist Karl nicht so sehr ein nationaler oder ein politischer Herrscher wie für die Franzosen, sondern Patron einer (deutsch-)imperialen und universalen römisch-christlichen Ordnung. Das Heilige Römische Reich des Mittelalters und der frühen Neuzeit war ja eher eine Idee als eine politische Realität. Und Symbol dieser Idee ist Karl. Da diese Idee aber nach dem 12. Jahrhundert, in dem die Karls-Erinnerung noch mal einen Aufschwung erlebte, immer mehr verblaßte, verblaßte auch Karl. Und als das Kaisertum 1871 in Deutschland wieder in Mode kam, suchte man nach einem nationalen Vorbild. So wurde nicht Karl, sondern der Staufer Friedrich Barbarossa, der „Rotbart“, der Patron des neuen Reichs und Vorgänger des „Weißbarts“, also Wilhelms I. Von vielen Nationalen – nicht allen, Leopold von Ranke etwa lobt ihn – wird Karl sogar als der schreckliche „Sachsenschlächter“ verdammt. Das verstärkte sich zunächst noch in der NS-Zeit, wo vor allem Himmler und Rosenberg dem „deutschen“ Sachsen-Fürsten und Karl-Widersacher Widukind huldigten und in Karl ein Verhängnis sahen. Das endete allerdings, als Hitler in Karl einen der größten Menschen der Weltgeschichte erblickte: Dieser habe die deutschen Stämme geeint, Karl wurde zur europäisch-germanischen Gründerfigur stilisiert. Seltsamerweise war das 1945 wie vergessen, so daß Karl problemlos zum inoffiziellen Übervater der europäischen Einigung werden konnte.

Und das ist er heute nicht mehr.

Weinfurter: Eigentlich nicht, sehen wir die EU doch tatsächlich nicht mehr in einem europäischen, sondern in einem globalen Zusammenhang. Auch die Forschung ist heute auf dem Weg, Karl zu einer Art Global Player zu machen.

Wie das?

Weinfurter: Karl verfügte über weitreichende Verbindungen in Gebiete der orientalischen, byzantinischen und nord-afrikanischen Welt. Diese Aspekte werden in den Mittelpunkt gerückt.

Ist so eine „Globalisierung“ Karls nicht eine Manipulation?

Weinfurter: Diese Kontakte Karls werden ja nicht erfunden, sondern mehr beachtet als früher. Es findet also eher eine Verschiebung der Perspektive statt.

Natürlich gab es solche Kontakte, aber dachte Karl je an eine transkulturelle Relativierung? Ist ergo die Fokussierung darauf nicht eine Verzerrung?

Weinfurter: Wissenschaft ist immer auch ein Kind ihrer Zeit. Und in der Geschichtswissenschaft nimmt heute der Aspekt der Transkulturalität einen hohen Rang ein. Sicher war Karl von den Nachrichten und Geschenken, die er vom Hof in Bagdad erhielt, beeindruckt, und zweifellos unterhielt er einen regen Austausch. Sein Horizont reichte weiter als sein Reich. Aber ebenso haben Sie völlig recht mit dem Hinweis, daß er gewiß niemals auch nur im Traum an eine Relativierung seiner eigenen kulturellen und christlichen Werte dachte. Jede Zeit hat eben ihren eigenen Karl.

 

Prof. Dr. Stefan Weinfurter, der Mittelalter-Historiker ist einem breiten Publikum vor allem durch seine wiederkehrenden Auftritte im ZDF, etwa in der Monumentalreihe „Die Deutschen“, bekannt geworden. Er gilt als besonderer Kenner der mittelalterlichen Geschichte, vor allem der Salierzeit, und hat eine grundlegende Biographie über Heinrich II. geschrieben und mehrere Mittelalter-Groß-ausstellungen organisiert. Geboren 1945 in Böhmen, aufgewachsen in München, lehrte Weinfurter in Eichstätt, Mainz, München und ist heute Ordinarius an der Universität Heidelberg. Unter anderem leitete er ein Projekt zum Wissenstransfer in der Epoche Karls des Großen, dessen Tod sich 2014 zum 1200. Mal jährt. Die Süddeutsche Zeitung kritisiert Weinfurter, weil er Geschichte immer noch als deutsche erzähle, obwohl es der größte Fortschritt der Mediävistik sei, das Mittelalter von seiner „anachronistischen Eindeutschung“ befreit zu haben. Nun erschien Weinfurters neues Werk: „Karl der Große. Der heilige Barbar“.

Foto: Standbild Karls des Großen (in Paris): „Gewiß hat er niemals auch nur im Traum an eine Relativierung seiner eigenen kulturellen und christlichen Werte gedacht“

 

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