© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

Pankraz,
C. Morgenstern und die Satzzeichen

Sein Leben war ein einziges sich schier endlos hinziehendes Sterben. Als Kleinkind von Tuberkulose befallen, die damals noch unheilbar war, schleppte er sich von einer Bettlägerigkeit zur anderen; Medizinen und Kuren konnten ihm immer nur phasenweise aufhelfen. Aber er verfügte über einen eisernen Willen, und so rang er der Krankheit ein gewaltiges schriftstellerisches Werk ab, das der deutschen Literatur viele neue unverwechselbare Impulse verlieh. Am 31. März 1914 ist er in einem „Schwindsüchtigen-Sanatorium“ in Meran verstorben, noch nicht dreiundvierzig Jahre alt.

Er war der Abkömmling einer angesehenen, wohlhabenden Münchner Künstlerdynastie, sein Großvater Christian Ernst Bernhard Morgenstern gilt heute als einer der bedeutendsten vorimpressionistischen Landschaftsmaler, als „deutscher Corot“. Auch Vater Carl Ernst war erfolgreicher Maler und Kunstprofessor in Breslau; doch Sohn Christian (geboren am 6. Mai 1871 in München) ließ schon früh seine Hinneigung zu Literatur und Wissenschaft erkennen. Mit achtzehn gründete er seine erste Zeitschrift, Deutscher Geist. Journal zur Erkundung der Welt. Felix Dahn und Werner Sombart an der Universität Breslau wurden seine ersten Lehrer.

Er wollte Dichter sein und Philosoph, Philologe und Nationalökonom, Pädagoge und Bohemien. Er reagierte mit größter Empfindlichkeit auf die Geistesströmungen der Epoche, Naturalismus, Theosophie, Anthroposophie. Die großen Skandinavier, Ibsen, Strindberg, Knut Hamsun, wurden seine Leitsterne. Er erlernte ihre Sprache, übersetzte sie, reiste lange in Norwegen. Zentrum seines der Krankheit abgerungenen Schaffens jedoch wurden das stürmische Berlin, die sich dort vielfältig etablierenden Geniekreise und avantgardistischen Verlage, welche ja alle irgendwie auf den Vulkanen tanzten.

Ab 1903 war er Lektor bei Bruno Cassirer, dem er bis zuletzt freundschaftlich verbunden blieb. Er wurde Zaungast bei den „Friedrichshagenern“ am Müggelsee, er trat im legendären Kabarett „Überbrettl“ auf, er veröffentlichte Gedichte, die in Stil und Qualität höchst honorig zwischen Richard Dehmel und Otto zur Linde siedelten. Berühmt und gefeiert jedoch wurde er nicht als Natur- und Liebeslyriker, sondern von Anfang an als literarischer Todeskandidat im buchstäblichsten Sinne, als eine Art Zombie, als Schöpfer – von „Galgenliedern“.

Das Buch dieses Titels erschien 1905 bei Cassirer, aber nach dem Tod des Dichters kam an den Tag, daß es nur einen kleinen Teil der von ihm geschriebenen Galgenlieder enthielt. Cassirer und Morgensterns Witwe Margareta gaben aus dem Nachlaß laufend „Ergänzungsbände“ heraus, „Der Gingganz“, „Palma Kunkel“, „Der Melderbaum“, „Klein Irmchen“, „Die Schallmühle“. Die Galgenlieder waren kein „Nebenprodukt“ des Dichters Morgenstern gewesen, sondern der Glutkern seines Schaffens. Um sie drehte sich alles, und es war ein Todestanz, die Feier des Todes unter dem Galgen.

Mitwelt und Nachwelt mißverstanden die Lieder zunächst als „lustige Unsinnslieder“ (Friedrich Kayssler) oder „geniale Humoresken“ (Rudolf Steiner). Gern wurde Nietzsche zitiert mit seinem Satz „In jedem Manne ist ein Kind versteckt, das will spielen.“ Erst allmählich ging den Leuten auf, daß die Galgenlieder – trotz Nasobem, dem großen Lalula oder dem Raben Ralf – keineswegs nur lustige Spiele waren, nicht einmal nur Sprachspiele, sondern daß es sich durch die Bank um Endspiele handelte, für den Dichter selbst wie für seine Sprache. Typisches Beispiel dafür die Ballade „Im Reich der Interpunktionen“, die bei vielen als besonders lustig und harmlos galt und die hier einmal in voller Länge zitiert sei:

Im Reich der Interpunktionen / nicht fürder goldner Friede prunkt: / Die Semikolons werden Drohnen / genannt von Beistrich und von Punkt. / Es bildet sich zur selben Stund / ein Antisemikolonbund. / Die einzigen, die stumm entweichen / (wie immer), sind die Fragezeichen. / Die Semikolons, die sehr jammern, / umstellt man mit geschwungnen Klammern / und setzt die so gefangnen Wesen / noch obendrein in Parenthesen./ Das Minuszeichen naht, und – schwapp! – / da zieht es sie vom Leben ab. / Kopfschüttelnd blicken auf die Leichen / die heimgekehrten Fragezeichen. / Doch, wehe! neuer Kampf sich schürzt: / Gedankenstrich auf Komma stürzt / und fährt ihm schneidend durch den Hals, / bis dieses gleich- und ebenfalls / (wie jener mörderisch bezweckt) / als Strichpunkt das Gefild bedeckt. / Stumm trägt man auf den Totengarten / die Semikolons beider Arten. / Was übrig von Gedankenstrichen, / kommt schwarz und schweigsam nachgeschlichen. / Das Ausrufszeichen hält die Predigt; / das Kolon dient ihm als Adjunkt. / Dann, jeder Kommaform entledigt, / stapft heimwärts man, Strich, Punkt, Strich, Punkt.“

Soweit also die Ballade „Im Reich der Interpunktionen“. Bedenkt man, daß sie von einem Menschen geschrieben wurde, der sein Leben lang auf einem qualvollen Totenbett lag und jede freie Schaffensstunde dem Schicksal mühsam abringen mußte, so kann man nur tief den Hut ziehen vor Christian Morgenstern. Welch eine Gelassenheit der Seele, die sich souverän Raum zu schaffen weiß für Fragen, die sie in ihrer aktuellen Situation ja nur am Rand berühren können! Welch eine Kraft des Humors, die aus einer bloßen Komma-Punkt-Bewegung eine tosende Feldschlacht zu bilden versteht!

Dennoch wäre es ganz und gar abwegig, die Interpunktionsballade, wie es einst Rudolf Steiner tat, lediglich als „geniale Humoreske“ zu würdigen. Der Humor ist hier die zwar goldene, aber doch nur hauchdünne Folie für die Thematisierung eines todernsten Vorgangs, der zur Zeit Morgensterns begann und heute im vollen Gange ist; der Entsinnlichung unserer Sprache, ihrer digitalen, rein mathematischen Reduzierung auf Strich und Punkt, Strich –Punkt, Strichpunkt. Es wäre der Tod jeder Poesie, jeder echten Kommunikation, jeder Freude am Leben. Der todkranke Dichter hat das erspürt und in Worte gefaßt.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen