© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Der Flaneur
Schicksalsfragen auf dem Klo
Sebastian Hennig

Der Zug fährt ein in den Würzburger Hauptbahnhof. Dieser Nachkriegsbau zeigt sich feierlich zur Stadt ausgerichtet wie der römische Hauptbahnhof. Anstelle des zerbombten Vorgängerbaus nahe der Residenz entfaltet sich die Charmelosigkeit des Mainfranken-Theaters mit seinem Straßenpflaster-Foyer. Dort will ich hin, abends zum „Lohengrin“, zum Mittagessen bin ich bei einer Freundin geladen. Zunächst aber suche ich ein Lokal für einen kleinen Frühstücksimbiß.

Es wird gebeten, das Stehlen zu unterlassen, weil es schlechtes Karma bringe.

Doch es ist eine unchristliche Zeit für solche Gelüste. Nach langem Suchen in den Gassen schleiche ich einer Gruppe hinterher, die hinter einer unscheinbaren Tür in einem Hinterhof verschwindet. In einem großen Raum spielt die Kapelle eine Art lässigen Jazzrock. Dort sitzen Familien an den bestellten Tischen.

Ich finde schließlich einen Platz gegenüber der Theke. Hier klappern die Teller, und die Mädels starten mit ihrer Last zu den Tischen. Im Café „Wunschlos glücklich“ gibt es eine anmutige flinke Bedienung. Ich bestelle Honigmilch in einem schlanken Glas und Rührei mit Tomate. Die Wand ist geschmückt mit thermisch-verformten Vinylschallplatten. Das ist die Brandmalerei einer neuen Generation, und statt „Haxen abkratzen!“ wird gebeten, das Stehlen zu unterlassen, weil es schlechtes Karma bringe. Was ist das für ein seichtes Gewäsch?

Das ganze Etablissement zeigt sich mit dergleichen Devisen verziert. An der Toiletteninnentür erhält der Dalai Lama das Wort. Wer hier sitzt und drückt, der liest unausweichlich: „Ich denke, der Sinn des Lebens besteht darin, glücklich zu sein.“ So ist es freilich kein Wunder, daß bei hartleibiger Lektüre das Bedürfnis nach einer Replik erwacht. Die findet sich mit Faserstift oberhalb des Papierrollenhalters gekritzelt: „Da es förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, zu kacken (und damit glücklich zu sein). Voltaire.“ Dialogische Fiktion am prosaischsten Ort: Einem „Anti-Machiavelli“ unserer Tage hätte Voltaire sicher so geantwortet.

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