© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

Die schnelle Andrea
Große Koalition: Ob Rente mit 63 oder Mindestlohn – Arbeitsministerin Nahles schaltet und waltet, wie sie will
Paul Rosen

Neben dem staatsmännischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und dem filmreif schauspielernden Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel haben die Sozialdemokraten auch Andrea Nahles in die erste Kabinettsreihe geschickt. Die Rheinland-Pfälzerin legt ein Arbeitstempo vor, als habe sich die Große Koalition bis Ende 2014 erledigt. Die Rente mit 63 dürfte jedenfalls bis zum Sommer dieses Jahres im Gesetzblatt stehen, auch wenn ein Teil der Union noch protestiert. Und der Mindestlohn von 8,50 Euro wird noch in diesem Jahr beschlossen werden.

In der Öffentlichkeit wirkt immer noch das Bild von der jungen Nahles nach. Mit ihrer schrillen Art nervte die damalige Juso-Chefin die SPD-Führung; suchten Journalisten eine Stimme in der Partei, die die eigene Führung kritisieren würde, waren sie bei Nahles meistens richtig. Sie ärgerte die Parteibosse derart, daß Franz Müntefering auf den SPD-Vorsitz verzichtete, als Nahles Generalsekretärin werden wollte und mehrheitsfähig zu sein schien.

Damit werden ihre politischen Einstellungen in groben Umrissen schon deutlich: Sie steht strikt gegen den Wirtschaftskurs der SPD zu Gerhard Schröders Zeiten, der die ganz klare Devise hatte, daß es den Unternehmen gutgehen muß, weil sie sonst keine Arbeitsplätze schaffen, sondern abbauen. Nahles hingegen hielt Schröder für die „Abrißbirne sozialdemokratischer Programmatik“, wobei der Begriff besser „sozialistische Programmatik“ geheißen hätte. Einen Ausdruck ihrer Geisteshaltung war vor gut einem halben Jahr im Bundestag zu erleben, als sie plötzlich das Pippi-Langstrumpf-Lied „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ trällerte. Genau das hat sie im Arbeits- und Sozialressort jetzt vor.

Die Welt der Andres Nahles läßt sich mit wenigen Begriffen umschreiben: Mehr Staat – weniger Privat, mehr Vorschriften – weniger Selbstverantwortung, höhere Steuern und Abgaben statt frei verfügbares Einkommen. Zum Menschenbild von Andrea Nahles gehört, daß der Mensch von der Politik an die Hand genommen und in eine bessere Zukunft geführt werden soll. In der DDR sollte diese Zukunft Kommunismus heißen. Im Westen, wo der Begriff bei SPD-Linken wie Nahles verpönt war, skizzierte man eine Gesellschaft, in der es vielfältig, tolerant und gerecht zugeht und alle solidarisch sind.

Rückentwicklung der SPD beschleunigt

Beim Nahles-Projekt Rente ab 63 geht es um weit mehr als einen „Pakt mit den Alten“, die angesichts des Geburtenrückgangs einen immer größeren Anteil am Wahlvolk haben. Es geht der Sozialdemokratin darum, wieder ein verläßliches Bündnis mit den Gewerkschaften zu schaffen. Das war schon zu Schröders Regierungszeiten in die Brüche gegangen, als die „Agenda 2010“ kam. Die Eiszeit zwischen Deutschem Gewerkschaftsbund und SPD verfestigte sich, als die SPD in der ersten Großen Koalition der Einführung der Rente ab 67 zustimmte.

Genau diese auf Generationengerechtigkeit und Finanzierbarkeit des Rentensystems ausgerichtete Politik wird jetzt im Eiltempo beendet. Nahles mausert sich damit zur schnellsten Ministerin im Kabinett Merkel. Bis zum Sommer soll die Rentenreform in trockenen Tüchern sein. Daß den Beitragszahlern zur Finanzierung der Wohltaten wie dem früheren Rentenbeginn und der Ausweitung der Kindererziehungszeiten die zu Beginn des Jahres 2014 versprochene Beitragssenkung (von 18,9 auf 18,3 Prozent) vorenthalten wurde, ließ Nahles kalt und die SPD auch. Nach sozialdemokratischem Verständnis steigt soziale Sicherheit mit der Höhe der Beiträge. Und der Sozialstaat wird um so besser, je mehr Geld in den Posten „Soziales“ gebuttert wird. Derzeit ist das ein Drittel der Bundesausgaben von 300 Milliarden Euro jährlich. Nahles legt gerade die Grundlagen dafür, daß der Anteil weiter steigen wird. Die Rentenreform dürfte in den nächsten 15 Jahren Mehrkosten von 200 Milliarden Euro nach sich ziehen.

Zwei Details machen die wirkliche Dimension deutlich: Die Anrechnung von Zeiten der Arbeitslosigkeit auf die Rente ab 63 (nach 45 Beschäftigungsjahren) weitet den Kreis der Anspruchsberechtigten stark aus. Da bisher keine Grenzen gezogen wurden, dürften viele Arbeitnehmer mit 61 Jahren in die Arbeitslosigkeit geschickt werden, um dann mit 63 die Altersrente ohne Abzüge zu erhalten. Dadurch droht eine beispiellose Frühverrentungswelle. Nicht angerechnet werden für die Frührente jedoch Zeiten, in denen Rentenversicherte selbst eingezahlt haben. Für diese Eigenvorsorge wurde in früheren Jahren stark geworben; Sozialisten wie Nahles war Eigenvorsorge immer ein Dorn im Auge. Das Mißtrauen hat auch immer der Tarifautonomie gegolten. Daher ist es jetzt tatsächlich ein „Riesending“, wie Nahles sagt, daß es einen Mindestlohn von 8,50 Euro geben wird. Die Union machte mit, der Mindestlohn war die zentrale Koalitionsbedingung der SPD. Den Tarifparteien wird die Möglichkeit genommen, Lohnuntergrenzen flexibel nach Branchen zu gestalten. Diese Aufgabe übernimmt jetzt der wieder ein Stück mächtiger werdende Versorgungsstaat.

Nahles beschleunigt die Rückentwicklung der SPD in die Vor-Godesberg-Ära. Mit dem Godesberger Programm (1959) hatten sich die Sozialdemokraten koalitionsfähig gemacht – damals mit CDU/CSU und FDP. Jetzt stellt die SPD die Weichen für Rot-Rot-Grün und wartet auf die nächste Gelegenheit, umzusteigen. Das muß nicht bis 2017, dem Jahr der nächsten regulären Bundestagswahl, dauern.

Foto: Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD): Die Bürger an die Hand nehmen, um sie in eine bessere Zukunft zu führen

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