© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Der Unmut des Westens über die massenhafte Zustimmung für Putin, Orbán und Erdogan erklärt sich aus der alten Verwechslung von Demokratie und Liberalismus und verkennt, wie regelmäßig der Wunsch des demos wiederkehrt, sich in einem zu manifestieren.

Zu den interessantesten Feldern der Frühgeschichte gehört die Bronzezeit, in mancher Hinsicht die erste Phase, die eine europäische Einheit kannte. Diese Behauptung scheint verwegen, sie wird plausibler angesichts der großen Zahl von Funden, die auf ein religiöses Symbolsystem verweisen, das den ganzen Mittelmeerraum, aber auch Teile Zentraleuropas, Skandinaviens und der Atlantikküsten umfaßte. Die Aufmerksamkeit der Archäologie richtet sich bei der Erforschung nicht nur auf die großen spektakulären Funde wie die Himmelsscheibe von Nebra, es geht auch um kleine Stücke, etwa die zahlreichen, mit sorgfältigen Gravuren versehenen Rasiermesser (die männliche Oberschicht ging in der Bronzezeit bartlos). Sehr oft finden sich auf den Klingen stark stilisierte Schiffsbilder, die in winzigen Details, was die Ausrichtung oder die Gestaltung von Bug beziehungsweise Heck angeht, abweichen und offenbar kein belangloser Zierat, sondern Sinnbilder des Laufs der Sonne waren, von dem die Menschen der Vergangenheit annahmen, das sie auf einem Schiff über den Himmelsozean glitt.

Vielleicht sollte man den fehlenden Aufstiegswillen von Jungmanagern, den die Wirtschaftsseiten beklagen, ebenso wie das notorische Gerede über Work-Life-Balance und die Begeisterung für die Frühverrentung etwas gelassener nehmen: als Indiz dafür, daß es doch noch etwas werden könnte mit der postmateriellen Orientierung, sobald ein gewisser Sättigungsgrad erreicht ist.

Bildungsbericht in loser Folge LIV: „Schließlich ist doch die entscheidende Frage: Wer beurteilt die Fähigkeiten der Lehrer und darf sie rausschmeißen? Will man Schulleiter zu Quasi-Geschäftsführern mit Personalhoheit machen? Oder sollen die Eltern über das Schicksal der Lehrer ihrer Kinder abstimmen? Oder am besten gleich eine Expertenkommission von Bildungsökonomen? Jede dieser abwegigen Alternativen würde verheerende Anreize schaffen. Das zeigt letztlich vor allem eines: Lehrer sind keine Dienstleister und Schulen keine Ausbildungsunternehmen. Der Beamtenstatus, also die weitgehende Sicherheit vor einer schnellen Kündigung als Gegenleistung des Staates für eine besondere Verantwortung der Lehrer, hat sich in Deutschland bewährt. Er ist nämlich auch ein Schutz der Lehrer vor Interessen.“ (Ferdinand Knauß in der Wirtschaftswoche)

Zu den Folgen des demographischen Wandels gehören auch: Dauerwerbesendungen für Treppenlift und Mittel gegen Inkontinenz, Boom der Hörgeräte- und E-Bike-Industrie, Rollatorstau im Kassenbereich, unfreiwillig Tempo 30 innerorts, Tempo 55 auf der Landstraße. Nur die Verkaufsfahrten mit Heizdeckenangebot scheinen im Rückgang begriffen.

Der Streber steht in der egalitären Gesellschaft vor besonderen Herausforderungen: Er will sich geltend machen, aber er weiß auch um die Macht des Gleichheitsdogmas und muß deshalb noch heftiger Bescheidenheit mimen als in früheren Zeiten.

„Hitler war kein Psychopath. Er war nicht grausam. Er wollte nicht, daß an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird. Stalin dagegen hat die Todeslisten voller Lust ergänzt und abgezeichnet, er war bösartig, er war ein Psychopath.“ (Jörg Baberowski, Historiker)

Vielleicht sind die Demonstranten auf der brasilianischen Straße, die zum fünfzigsten Jahrestag des Militärputsches von 1964 eine neuerliche Intervention der Armee verlangten, weniger Nostalgiker als Avantgardisten.

Die Schiffsdarstellungen der Bronzezeit bezogen sich mit dem Wechsel von Tag und Nacht vielleicht auch auf das Widerspiel von Leben und Tod. Noch größer ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenhangs im Fall der zahlreichen Kleinplastiken, die Wasservögel darstellten, bevorzugt Enten (auch merkwürdig mit dem Kraftsymbol der Stierhörner kombiniert) oder Schwäne. Für die Schwäne kann man auf eine uralte Tradition verweisen, die über die heiligen Tiere, die Apollon zu den Hyperboräern brachten, und die Schwanenkleider der Walküren bis zum Schwanenritter der mittelalterlichen Sage reichte. Interessanter ist aber die unscheinbare Ente. Dietrich Evers, wenngleich ein Außenseiter der zünftigen Archäologie, hat doch mit gutem Grund die Vermutung geäußert, daß der etymologische Zusammenhang von „See“ und „Seele“ im Deutschen kein Zufall sei und daß der Vogel, der in den Untergrund tauchen, auf der Oberfläche schwimmen und in den Himmel aufsteigen konnte, für unsere Vorfahren ein geeignetes Sinnbild für den Zusammenhang Leben-Tod-Auferstehung war.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 25. April in der JF-Ausgabe 18/14.

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