© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

Im Zeichen einer geistigen Mobilmachung
H. G. Wells: Ein gut vernetzter Autor als Seismograph der deutsch-englischen Beziehungen vor 1914
Heinz-Joachim Müllenbrock

Der Prozeß politischer Meinungsbildung im England des frühen 20. Jahrhunderts erfolgte im Rahmen eines dicht gespannten Netzwerks informeller persönlicher Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern, die in regelmäßigem Kontakt miteinander standen.

Zu dieser engen kommunikativen Gemeinschaft gehörten auch die im kompakten politischen Raum Londons verankerten Schriftsteller, die an der Bildung der öffentlichen Meinung mitwirkten. H. G. Wells (1866–1946), einer der prominentesten Autoren der Zeit, begleitete als publizistischer Akteur regelmäßig diesen Prozeß. Sein literarisches Werk zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch gewährt vielsagende Einblicke in die Gestaltung des deutsch-englischen Verhältnisses, die auf Aktenstudien festgelegte Historiker geradezu sensationell anmuten müssen.

Wells war ein präziser politischer Seismograph. Bereits im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ließ er im Medium utopischer Schriften wie „When the Sleeper Wakes“ (1899) Vorbehalte gegenüber Deutschland und entsprechende profranzösische Neigungen durchblicken. Diese Sympathielenkung fand ihre Fortsetzung in den um die Jahrhundertwende zuerst in der Fortnightly Review veröffentlichten und 1901 in Buchform unter dem Titel „Anticipations“ erschienenen Essays. Im Kontext seiner soziologisch-spekulativen Zukunftserkundungen sagt Wells die genaue Mächtekonstellation beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit der Gegnerschaft Englands zu Deutschland voraus.

Politische Informiertheit darf auch seiner Utopie „A Modern Utopia“ (1905) zugeschrieben werden. In der Aussparung Deutschlands aus der hier herbeigewünschten Völkersynthese bestätigt sich Wells’ bisherige Einstellung diesem Land gegenüber, während die Einbeziehung Italiens in diese von England, Frankreich und den Vereinigten Staaten geführte internationale Gemeinschaft die Entfremdung Italiens von seinen Dreibundpartnern widerspiegelt.

Aufbietung sämtlicher antideutscher Stereotypen

Ein Jahr später war in seiner Erzählung „In the Days of the Comet“ (1906) zum ersten Mal offen und ausführlich von einer direkten deutsch-englischen Konfrontation die Rede. Die detaillierten militärischen Operationen, die Wells insbesondere bei der Darlegung der Kriegsstellung zur See und der anglo-französischen Zusammenarbeit ins Auge faßt, lassen auf Insider-Wissen über die seit der ersten Marokkokrise im Jahr 1905 eingeleiteten geheimen englisch-französischen Militärabsprachen schließen. Eine Hauptschuld an der von dem Autor bedauerten kriegerischen Auseinandersetzung wird bemerkenswerterweise der die Öffentlichkeit unverantwortlich aufputschenden englischen Massenpresse gegeben, die das Unbehagen über die deutsche Flottenrüstung zu antideutscher Stimmungsmache in den sogenannten navy scares instrumentalisiert habe.

Bald darauf kehrte Wells zur gängigen deutschlandpolitischen Linie der englischen Medien zurück und schrieb mit „The War in the Air“ (1908) sein giftigstes Propagandawerk, in dem der mit Nietzscheschen Zügen ausgestattete Prinz Karl Albert die Dämonisierung Deutschlands symbolisiert. Darin wird unter konzentrierter Aufbietung sämtlicher antideutscher Stereotypen vor dem deutschen Hegemoniestreben gewarnt, indem den schon damals von England umworbenen Amerikanern die Aggressivität des technisch fortschrittlichen Kaiserreichs mittels eines Luftflottenangriffs auf die Vereinigten Staaten suggeriert wird. Dieses Buch war der sinnfällige Ausdruck des auch in der Literatur artikulierten Bewußtseins von einer unvermeidlichen deutsch-englischen Gegnerschaft.

Wie wurde ein junger Autor wie Wells, der aufgrund seiner Herkunft aus einer eine prekäre Existenz führenden Kleinbürgerfamilie mit großer Politik nicht in Berührung kam, Teil eines multimedialen publizistischen Netzwerks? Die Informationsvermittlung zu ihm erfolgte über die „Coefficients“, einen um die Jahrhundertwende gegründeten, vielfältig zusammengesetzten Debattierklub, in dem sich unter anderem Politiker, Militärexperten wie Colonel Charles Repington von der Times und hochrangige Journalisten imperialistischer Couleur wie L. J. Maxse und J. L. Garvin zusammenfanden.

Später hat sich Wells in seinem autobiographisch gefärbten Roman „The New Machiavelli“ (1911) daran erinnert, daß ihre Zusammenkünfte von dem Gefühl einer kommenden Abrechnung mit Deutschland durchdrungen waren. Seine literarischen Projektionen des Verhältnisses Englands zum Deutschen Reich fußten also auf Insider-Kenntnissen. So stand er mit seiner erstaunlichen Prognose in „Anticipations“ zur Konstellation bei Kriegsausbruch zweifellos unter dem Einfluß des konservativ-imperialistischen Netzwerks um die Times, John St. Loe Stracheys Spectator und L. J. Maxses National Review, das um die Jahrhundertwende, noch während der Sondierungen betreffs eines deutsch-englischen „Bündnisses“, in einer sorgfältig orchestrierten Pressekampagne eine Neuausrichtung der britischen Außenpolitik mit Abwendung von Deutschland und Hinwendung zu Frankreich und Rußland forderte und rasch die Diskurshoheit errang.

In der Gedankenschmiede der „Coefficients“ lernte Wells auch die außenpolitischen Vorstellungen der führenden Liberal Imperialists, des späteren Außenministers Sir Edward Grey und des späteren Kriegsministers Lord Haldane, kennen. Grey, der schon als Oppositionspolitiker Deutschland ablehnend gegenüberstand und sich sogar in die erwähnte antideutsche publizistische Kampagne einschaltete, bestimmte ab 1905 die Außenpolitik der regierenden Liberalen Partei und machte seine germanophoben Neigungen mit publizistischer Rückendeckung zur rigiden Richtschnur seines politischen Handelns (JF 13/14). Letzteres mündete bereits 1907 in die anglo-russische Konvention, mit der die Triple-Entente Gestalt annahm.

Die zurückweisende englische Einstellung Deutschland gegenüber hat auch in der nach der zweiten Marokkokrise von 1911 eingeleiteten Deeskalationsphase keinen grundsätzlichen Wandel mehr erfahren. Die einvernehmlichen Regelungen über die portugiesischen Kolonien in Afrika und in der Bagdadbahn-Angelegenheit sowie die gemeinsame Vermittlung in den Balkankriegen kamen keiner substantiellen Wende gleich, wie der deutsche Botschafter in London, der von Wunschdenken nicht freie Karl Max Fürst von Lichnowsky, irrtümlicherweise annahm.

Zwar hat auch Wells keinen radikalen Umschwung in seiner Positionierung zu Deutschland mehr vollzogen, doch weisen seine dem Kriegsausbruch unmittelbar vorangehenden Schriften eine verbindlichere Tonlage auf. Sie verliehen sogar der nach außen freundlicher gewordenen Gestaltung des bilateralen Verhältnisses eine gewisse Resonanz. So schlug er in dem Roman „The Passionate Friends“ (1913) Deutschland gegenüber nun einen versöhnlichen Ton an und stellte fest, daß das Kaiserreich in der zweiten Marokkokrise keineswegs auf Krieg eingestellt gewesen sei.

In „The World Set Free“ (1914) schließlich registrierte er den aggressiven Expansionismus des von Rußland beherrschten Slawentums. Es mag als Nachhall jüngster bilateraler Verständigungsbemühungen gedeutet werden, daß der deutsche Vetter König Egberts in der utopischen Zielvision am Zustandekommen einer besseren Welt mitwirkt. Doch war sich Wells, was die unvollkommene Gegenwart anbelangt, des präjudizierenden Gewichts der diplomatischen Konstellation mit der Blockbildung zwischen Triple-Entente und Mittelmächten schmerzlich bewußt.

Englische Meinungsbildung war auf Krieg ausgerichtet

Daß es am 4. August 1914 zur britischen Kriegserklärung an Deutschland kam, war die logische Konsequenz der den meisten Mitgliedern des Kabinetts in ihrer vollen Tragweite verschwiegenen Greyschen Außenpolitik. Nicht zuletzt in Anbetracht des im Gleichlauf mit der Politik entwickelten öffentlichen Erscheinungsbildes Deutschlands mutete sie wie ein folgerichtiger Schritt an. Während es für den Fall kriegerischer Zuspitzung in Deutschland keine Alternative zum Schlieffenplan gab, sah das mit germanophobem Spitzenpersonal (Sir Eyre Crowe oder Sir Arthur Nicolson) besetzte Foreign Offfice kein anderes Szenario vor als die durch militärische Absprachen bereits festgezurrte Unterstützung des französisch-russischen Zweibundes. Letztlich zog die von Sir Edward Grey herbeigeführte Kriegserklärung lediglich den Schlußstrich unter die in der öffentlichen Meinungsbildung längst vollzogene und durch die diplomatische Ausrichtung kundgetane Kampfansage an das Deutsche Reich.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Laurence Sterne and Aldous Huxley (JF 48/13).

Foto: Politik in Gentlemen-Atmosphäre; Wachsfiguren stellen Anbahnung der Entente Cordiale zwischen dem späteren König Eduard VII. und dem Franzosen Léon Gambetta 1881 dar: Kampfansage an das Deutsche Reich

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