© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/14 / 11. April 2014

Ein Stück Jerusalem in Sachsen
Originaler als das Original: Die 500 Jahre alte Heilig-Grab-Anlage in Görlitz zieht Pilger und Touristen an
Paul Leonhard

Wer im Mittelalter zum Heiligen Grab nach Jerusalem pilgerte, dem wurden alle bisher angesammelten Sünden erlassen, so er es denn glücklich erreichte. Es war ein gefahrvoller Weg von Deutschland über die Alpen bis ans Meer und dann hinüber ins ferne Land! Und es war ein teures Unternehmen. Deswegen mußten die potentiellen Ritter des Heiligen Grabes zuvor auch ihr Testament machen. Die Städte zeigten wenig Lust, für die Familien der um ihr Seelenheil fürchtenden ausziehenden Sünder im Todesfall des Ernährers aufkommen zu müssen.

Das war auch im Fall des Görlitzer Bürgers Georg Emmerich 1465 so. Der hatte Sünde auf sich geladen, als er die Tochter einer mit der seinen verfeindeten Patrizierfamilie geschwängert und dann nicht geheiratet hatte. Letztlich erreichte Emmerich glücklich das Heilige Grab, kehrte reingewaschen heim und wurde nicht nur ein erfolgreicher Kaufmann, sondern auch mehrmals Bürgermeister der reichen Handelsstadt an der Neiße.

Überall in Europa wurden Heilige Gräber errichtet

Trotzdem wäre er wohl längst vergessen, wenn er nicht irgendwann beschloß, das Heilige Grab vor den Toren seiner Heimatstadt nachbauen zu lassen. Als cleverer Handelsmann überließ er die Finanzierung übrigens dem Rat der Stadt, der traditionell sehr auf das religiöse Leben sowie die Frömmigkeit achtete und so den Bürgern, die häufig noch Analphabeten waren, ein Stück Passionsgeschichte zum Anfassen bot.

In der Zeit des ausgehenden Mittelalters herrschte ein großes Interesse an den Stätten, an denen Jesus gelebt, gegessen und gepredigt hatte. Die Gläubigen faszinierte eine zumindest symbolische Teilhabe am Leben des Heilands, und überall in Mitteleuropa wurden Heilige Gräber errichtet. Das Besondere an dem in Görlitz errichteten ist aber neben der engen Anlehnung an das originale Jerusalemer Ensemble aus der Zeit des Hohen Mittelalters und seiner Einbettung in die natürliche Landschaft noch etwas anderes: Es hat im Gegensatz zum ursprünglichen Heiligen Grab alle Wirren der Zeit heil überstanden. Denn während die Grabeskirche in Jerusalem von einem Brand zerstört und umgebaut wurde, gerieten die Gebäude an der Neiße lediglich in Vergessenheit, wurden von der sich vergrößernden Stadt geschluckt und von Gründerzeitgebäuden eingerahmt.

„Görlitz-Pilger“ bekommen Stempel und Urkunde

So präsentiert sich der zwischen 1481 und 1504 entstandene Komplex noch heute: die doppelgeschossige Kapelle „Zum Heiligen Kreuz“ mit Adams- und Golgathakapelle, die in einem maurisch-romanisch anmutenden Mischstil errichtete Grabkapelle mit der Grabkammer und das Salbhaus mit einer von Hans Olmützer Ende des 15. Jahrhunderts geschaffenen Sandsteinskulptur.

Dazu kommt die topographisch ähnliche Lage: der Hügel Golgatha, das Kidrontal und der Ölberggarten lassen sich auch hier finden. War in Jerusalem der höchste Punkt der Tempel, so ist es hier die mächtige, auf einem Felsen über der Neiße thronende Pfarrkiche St. Peter und Paul. Und auch die Sichtbeziehung und die räumliche Distanz zwischen Tempel und Golgatha dort sowie dem Gotteshaus stimmen überein. Die Anlage gilt als einer der ersten symbolischen Landschaftsgärten in Deutschland.

Heute kommen etwa 30.000 Besucher jährlich in die von der Evangelischen Kulturstiftung betreute Anlage. Längst überwiegt der museale Charakter den der Verkündigung. Die Ausnahme ist der Karfreitag. Seit Ende der achtziger Jahre treffen sich wieder Christen zur Prozession. Diese führt von der Peterskirche zum Heiligen Grab. Wer alle Kreuzwegstationen besucht hat, darf um eine Pilgerurkunde bitten. Die bescheinigt mit zwei Stempeln, daß man „in Erfüllung einer biblischen Weisung als Pilger zum Heiligen Grab in der Stadt Görlitz hinaufgezogen ist und damit berechtigt ist, als Görlitz-Pilger bezeichnet zu werden“.

www.kulturstiftung.kkvsol.net

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