© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Institution in Abwicklung
Evangelische Kirche: Angesichts des Mitgliederschwundes stehen der EKD in den kommenden Jahren gravierende Einschnitte bevor
Christian Vollradt

Ein ganz normaler Sonntag in einer evangelischen Kirche irgendwo in Norddeutschland: Knapp fünfzig Gemeindemitglieder sind zum Gottesdienst gekommen, die Grauhaarigen sind in der Mehrheit, dazwischen ein paar Vorkonfirmanden und zwei Familien mit noch jüngeren Kindern. Im renovierten spätbarocken Kirchenschiff hätten über 250 Besucher Platz, die beiden Emporen nicht mitgerechnet.

Doch so richtig voll wird es hier meist nur noch am Heiligen Abend beim Krippenspiel oder zu besonderen kirchenmusikalischen Anlässen. Längst hat die Gemeinde mit der Nachbargemeinde ein sogenanntes Quartier gebildet; das heißt, man ist weiterhin eigenständig, teilt sich allerdings manche Aufgaben sowie das Pfarrbüro. Viele Angebote, die vor 25 Jahren noch die Regel waren, sind heute Ausnahme. Ein gesonderter Kindergottesdienst fand früher in jeder der beiden Gemeinden und an jedem Sonntag statt; heute ist für die Kleinen einmal im Monat Familiengottesdienst. Kinder- und Jugendkreise sowie die Jungschar gab es früher jede Woche, heute existieren solche Gruppen nur noch in reduzierter Form.

Tristes in den Stammlanden der Reformation

Das alles sind die konkreten Auswirkungen dessen, was jüngst eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) statistisch ans Tageslicht brachte (JF 12/14): die Kluft zwischen den nominellen und den engagierten Mitgliedern der Landeskirchen. 24,3 Millionen Deutsche gehören einer der Gliedkirchen der EKD an. Doch nur rund 15 Prozent fühlen sich ihrer Kirche „sehr verbunden“, und lediglich rund 3,5 Prozent der Protestanten haben an den sogenannten „Zählsonntagen“ einen Gottesdienst besucht. Der scheidende braunschweigische Landesbischof Friedrich Weber warnte angesichts dessen jetzt davor, lebendiges evangelisches Christentum mit einem funktionierenden Kirchenapparat zu verwechseln. Und der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, fühlt sich „herausgefordert, das geistliche Leben immer wieder neu zu beleben“.

Selbst wenn man nicht ein aktives Gemeindeleben oder praktizierte Frömmigkeit zum Maßstab nimmt, sieht es derzeit nicht gut aus für die EKD. 263.552 Mitglieder verloren die 20 Landeskirchen im Jahr 2012. Zum Vergleich: Die Zahl der Katholiken sank im selben Zeitraum um 132.789 Personen. Damit ist die Abwanderung aus der evangelischen Kirche stärker, obwohl sie in der Öffentlichkeit weit weniger Kritik erfährt als die katholische Kirche. Hauptursache für den Schwund bei den Protestanten: zum einen die Demographie (die Zahl der Beerdigungen übertrifft die der Taufen und Konfirmationen). Und außerdem liegt die Zahl der Austritte erheblich höher als die der Eintritte (siehe Grafik). Besonders trist sieht die Situation ausgerechnet in den früheren Stammlanden der Reformation aus. Sachsen-Anhalt ist mit einem Anteil von lediglich 15,2 Prozent Protestanten mittlerweile das Schlußlicht unter den deutschen Bundesländern.

Der demographische Umbruch macht sich für die Kirche auch finanziell bemerkbar. Die wesentliche Einnahmequelle, die Kirchensteuer, ist abhängig von der Lohn- oder Einkommensteuer; Kinder, Jugendliche und Rentner zahlen daher keine Kirchensteuer, sie wird derzeit nur von 30 Prozent der Kirchenmitglieder entrichtet. Gerade jedoch unter den berufstätigen Jahrgängen der 21- bis 60jährigen ist die Zahl der Austritte beziehungsweise die Neigung zum Austritt besonders hoch. Setzt sich dieser Trend fort, gehören im Jahr 2030 nur noch 17,6 Millionen Deutsche einer Kirche in der EKD an. Der Rückgang bei den (potentiellen) Kirchensteuerzahlern wäre noch dramatischer, ihre Zahl sänke um fast die Hälfte auf dann nur noch 7,7 Millionen Mitglieder.

Bis zu tausend Kirchen stehen zur Disposition

Bereits vor sieben Jahren hat man sich in der Leitung der EKD deswegen „Sorge um die Zukunft der Kirche“ gemacht und in einem sogenannten Impulspapier vor dem „hochexplosive(n) Gemisch aus Versorgungskosten, Teuerungsrate und schrumpfenden Einnahmen, (das) zur faktischen Gestaltungsunfähigkeit führt“, gewarnt. Den Schlüssel der Weisen für eine Trendumkehr hat man indes bisher nicht gefunden. Deswegen werden weiterhin kirchliche Aktivitäten schrumpfen, Stellen gekürzt und möglicherweise – wie im Norden oder in Mitteldeutschland – Landeskirchen fusionieren. Und weil leere Kirchen zu teuer sind, wird man auch künftig Gotteshäuser verkaufen (müssen). 340 evangelische waren es in den 20 Jahren zwischen 1990 und 2010, 46 davon wurden sogar abgerissen. In der EKD spricht man von tausend weiteren, die man eventuell in Zukunft aufgeben müsse.

Kommentar Seite 2

 

Appell „Zeit zum Aufstehen“

Während die EKD vergangene Woche in Hannover ihr Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Theologie eröffnet hat, haben sich führende theologisch konservative Protestanten mit einem „Ruf zur Mitte“ in geistlichen und gesellschaftlichen Fragen zu Wort gemeldet. Ihr Appell „Zeit zum Aufstehen“ soll die „Grundlagen des Glaubens neu ins Zentrum rücken“ und den evangelischen Kirchen in Zeiten einer tiefgreifenden spirituellen Krise wieder „zur Klarheit der Reformation“ verhelfen. In sieben Punkten erläutern die Initiatoren aus Landes- wie Freikirchen ihre geistlichen und gesellschaftlichen Anliegen. „Die ganze Bibel ist Gottes Wort“, heißt es etwa. Sie bleibe die Autorität für die Lehre der Christen und sei „immer aktueller als der jeweilige Zeitgeist“. Deswegen werde man sich unter anderem „für die Ehe von Mann und Frau und gegen ihre Entwertung“ engagieren auch angesichts einer Ideologisierung, etwa durch das Gender-Mainstreaming. (vo/idea)

www.zeit-zum-aufstehen.de

Foto: Leere Kirchenbänke: Mehr Protestanten als Katholiken verlassen die Kirche

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