© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Putins strenger Blick auf die Ukraine
Rußland: Anschuldigungen hier, Dementis da – Moskaus Politik gegenüber dem Nachbarn irritiert, dabei folgt sie simplen Mustern
Thomas Fasbender

Maskierte, prorussische Kämpfer halten die Ostukraine in Atem. Sind es russische Soldaten oder von lokalen Oligarchen ausgestattete Milizen? Sammelt Putin Faustpfänder für die anstehenden Verhandlungen in Genf? Die Nato zeigt Satellitenfotos von der russischen Truppenkonzentration an der Grenze zur Ukraine. Sie sollen im Frühjahr 2014 gemacht worden sein. Rußland dementiert. Laut Generalstab stammen die Aufnahmen jedoch aus dem vergangenen Jahr. Hin und her wogen Anschuldigungen und Dementis.

Doch was will Moskau wirklich? Die Kremlologie hat Konjunktur. Manch Leitartikler sieht das Augenmerk der russischen Generäle schon auf Rumänien und das Baltikum gerichtet, und bisweilen klingt die bange Frage durch, ob Putin wenigstens an der Elbe haltmachen wird.

Imperiales Gehabe ist Zierde für das Publikum

Westeuropäische Abenteuer sind allerdings das letzte, was Rußland sich wünscht. In Wahrheit wendet das Land sich im 21. Jahrhundert vom Westen ab und löst sich aus einer über 300jährigen Konditionierung. Die Ära der Umarmung alles Europäischen, eingeleitet vor 1700 durch Peter I., endet mit Wladimir Putin.

Seit dessen Machtantritt 2000 wird die russische Politik von dem Willen bestimmt, dem Land wieder eine Rolle im Spiel der Mächte zu sichern. Russische Politiker betonen, Moskau habe gar keine andere Wahl. Eine Politik des „Disengagement“ sei aufgrund der riesigen Ausmaße und der Nachbarschaft zu den neuralgischen Regionen Eurasiens illusorisch. Die Alternative, der zufolge Rußland sich dem amerikanisch-westlichen Bündnissystem ein- und unterordnen müßte, wäre den Menschen, sowohl dem Wahlvolk als auch der Elite, nicht vermittelbar. Sergej Lawrow, der russische Außenminister, drückt es so aus: Das „Syndrom einer unipolaren Welt“ müsse schnellstens überwunden werden, denn „die Welt ist nur multipolar vorstellbar“.

Das überragende strategische Ziel der russischen Politik ist der Status einer regionalen Großmacht mit weltpolitischem Gewicht. Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung der UdSSR oder um ein neues russisches Imperium. Beides sind Begriffe der Vergangenheit. Für Putin stehen jedoch keine Formen oder Begriffe, sondern russische Interessen, Macht und Sicherheit im Mittelpunkt. Imperiales Lametta ist Zierde fürs Publikum.

Die Umsetzung dieses politischen Großziels verläuft reaktiv und opportunistisch. Im Kreml gibt es keine Schublade, in der ein Drehbuch mit konkreten Schritten liegt – auch in der Politik sind die Russen Meister der Improvisation.

Putin geht es ebensowenig um Odessa, Lugansk oder Donezk, wie der Anschluß der Krim das Resultat einer „grand strategy“ war. Darauf verweist auch Dmitrij Trenin vom Moskauer Carnegie-Zentrum. Er ist überzeugt, daß der Kreml, ungeachtet aller Bedenken, bis zuletzt gehofft habe, die Morgengaben aus dem Dezember (Gaspreis, 15-Milliarden-Kredit) würden dem Janukowitsch-Regime das Überleben sichern. Erst nachdem der gewählte Präsident aus Kiew geflohen war, habe Putin im Kreis seiner drei engsten Berater den Anschluß der Krim beschlossen. Die Namen sind bekannt: FSB-Chef Alexander Bortnikow, der Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Iwanow, und der Leiter des russischen Sicherheitsrats, Nikolaj Patruschew.

Will Rußland also die ganze Ukraine, den Osten, den Süden, Transnistrien obendrein oder vielleicht doch nur die Krim? Eine Antwort gibt es nicht. Putin betreibt Politik als Kunst des Möglichen im Bismarckschen Sinn. Taktische Schritte und Etappenziele werden je nach Opportunität formuliert. Zweifellos stellt die Ukraine ein Kronjuwel dar, und der Schriftsteller Viktor Jerofejew hat nicht ganz unrecht, wenn er sagt: „Ohne die Ukraine wird das Imperium nicht vollwertig sein.“ Dabei ist ihr Stellenwert, abgesehen von der mythischen Rolle Kiews als Urmutter der Rus, vor allem ein militärstrategischer. Tausend Jahre lang drangen die Feinde aus Richtung Westen ins Land. Träte die Ukraine der Nato bei, so stünde erstmals seit 1944 wieder ein westeuropäisches Militärbündnis zwischen Charkow und Kursk, vierhundert Kilometer vor Moskau. Nach 1989 ist die Nato-Ostgrenze bereits bis an den Bug und ins Baltikum gerückt. Eine weitere Revision im 21. Jahrhundert wird Rußland nicht kampflos hinnehmen.

Für den Kreml hätte ein Nato-Beitritt der Ukraine die gleiche Bedeutung wie für die USA vor einem halben Jahrhundert die sowjetischen Raketen auf Kuba. Mit der Krim hat Rußland einen Fuß in der Tür, der die Aufnahme der Ukraine in das westliche Bündnis jedenfalls nicht leichter macht. Die Krim war ein Heimspiel, und nur deshalb hat Putin nach dem 21. Februar seine Entscheidung getroffen – opportunistisch, vorsichtig und mutig zugleich. Das Völkerrecht brauchte er dabei nicht weiter zu dehnen als die Westalliierten im Falle des Kosovo.

Auf den Anschluß der Krim folgt das Tauziehen der Politiker und der Statisten vor Ort. Im Westen ertönt der Vorwurf, Moskau sende Agenten und Provokateure in die Ostukraine. Außenminister Lawrow reagierte mit dem Hinweis auf einen angeblichen Besuch des CIA-Chefs John Brennan am vergangenen Wochenende in Kiew.

Interesse an Föderalisierung der Ukraine

Dmitrij Timtschuk, Koordinator im ukrainischen Medien-Krisenzentrum, beruft sich auf Kreml-Interna, denen zufolge eine militärische Intervention erst dann in Frage komme, wenn die Stimmung in den betroffenen Gebieten eindeutig den Anschluß an Rußland verlange. Die geeignetste Phase für eine solche Intervention – in den Tagen nach Mitte März – sei laut Timtschuk ohnehin bereits verstrichen.

Noch lehnen der Westen und Kiew eine Föderalisierung der Ukraine etwa nach deutschem Vorbild ab. Dennoch ist der Vorschlag des amtierenden Präsidenten der Ukraine, zeitgleich mit der Präsidentenwahl am 25. Mai ein Referendum in der Ostukraine abzuhalten, durchaus geeignet, den Separatisten Wind aus den Segeln zu nehmen.

Moskau weiß, daß anders als auf der Krim die Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer nicht unbedingt die Zugehörigkeit zu Rußland wünscht. Sobald Kiew beim Thema Föderalisierung Bewegung zeigt, ist daher auch ein Ende der Krise absehbar. Putins nächste Schritte jedenfalls stehen nicht im Drehbuch, sondern werden durch die Ereignisse bestimmt.

Ob es zu einem glimpflichen Ausgang kommt, ist bei Drucklegung dieser Ausgabe alles andere als gesichert. Seinem französischen Amtskollegen Laurent Fabius gegenüber unterstrich Lawrow noch zu Wochenbeginn, daß ein Einsatz der ukrainischen Streitkräfte gegen die Separatisten die Hoffnung auf eine friedliche Lösung ernsthaft gefährde.

Foto: Prorussische Aktivisten besetzten am Wochenende ein Polizeigebäude in der ostukrainischen Stadt Slowiansk und hißten ein „Republik Donetzk“-Banner: Bei der sich anschließenden Stürmung durch ukrainische Spezialkräfte gab es Tote auf beiden Seiten. Nur ein Vorgeschmack?

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