© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Digitale Demenz im Deutungskampf
Meta-Studie will „alarmistische Tendenzen“ zu Auswirkungen der Internetnutzung widerlegen
Christoph Keller

Der schlagwortartige Buchtitel „Digitale Demenz“ bescherte dem Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer 2012 die Aufmerksamkeit des Feuilletons und der nicht minder auf Sensationen erpichten TV-Schwatzrunden. Außerhalb des akademischen Elfenbeinturms sah sich der Hirnforscher einer Öffentlichkeit ausgesetzt, die sich allzu gern durch katastrophisch grundierte Nachrichten in Wallung bringen läßt. Davon hatte Spitzer reichlich zu bieten (JF 8/13).

In der medial beliebten Telegrammversion lautet seine These: Internetnutzung mache „dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich“. Diese Ansicht verfechten inzwischen eine Reihe von Autoren in Monographien und Aufsätzen zur „Computersucht“. Daß es sich dabei um einen „Mythos“ handeln könnte, vermuteten die Psychologen Markus Appel und Constanze Schreiner (Universität Koblenz-Landau), die daraufhin Meta-Analysen auswerteten, die seit 1995 aus Hunderten von Einzelstudien gewonnen wurden (Psychologische Rundschau, 1/2014).

Um das Ergebnis ihrer „Entmythisierung“ vorwegzunehmen: Spitzer ist mit der gesellschaftspolitisch brisantesten seiner Behauptungen, wonach Mediengewalt kausal für aggressives Verhalten von Jugendlichen sei, nicht widerlegt. Appel und Schreiner verweisen dafür auf die bisher umfassendste Meta-Analyse zum Einfluß von Gewalt in Videospielen, die 2010 fast 400 Einzelstudien extrahierte. Dabei ergab sich ein positiver Zusammenhang zwischen der Nutzung dieser Spiele und aggressivem Verhalten, Denken und Fühlen. Eindeutig wirkten sie sich negativ auf prosoziales Verhalten und Empathie aus. Ältere Erhebungen würden durch diese Studie bestätigt. Insgesamt lasse sich daher ein „weitverbreiteter wissenschaftlicher Konsens“ darüber ausmachen, daß Mediengewalt Ursache aggressiven Erlebens und Verhaltens sei. Allerdings, so merken sie relativierend an, gehöre es auch zum wissenschaftlichen Konsens, weitere, „möglicherweise erklärungskräftigere“ Einflußfaktoren wie Familie, Erziehung, soziale Umwelt, „Verfügbarkeit von Waffen“, in Rechnung zu stellen.

Was die übrigen „unsachgemäßen Inhalte“ von Spitzers mit „wenig relevanten neurowissenschaftlichen Theorien und Befunden“ umrahmter Darstellung betrifft, so geben die Landauer Psychologen kaum noch Pardon. Höchstens ein „kleiner Zusammenhang“ zwischen Fettleibigkeit und exzessivem Mediengenuß, der für den Fernsehkonsum zudem signifikanter als für die PC-Nutzung ausfiel, werde zumindest für Kinder unter 12 Jahren bestätigt.

Verschlechtern „Navis“ den Orientierungssinn?

Noch ungünstiger für ihn falle die empirische Überprüfung seiner Unterthesen zur sozialen Interaktion aus. Nur sehr kleine negative Effekte, die aber im längsschnittlichen Studiendesign verschwänden, deuten darauf hin, daß häufige Aufenthalte in der virtuellen Internetwelt zur Vernachlässigung der realen Kontakte mit Freunden und Familie führen. Folglich liefere das Datenmaterial auch keinen Hinweis auf reduziertes gesellschaftliches Engagement. Ebensowenig stütze es die Warnungen vor Vereinsamung, Depression, absinkendem Selbstwertgefühl und eingeschränkter Lebenszufriedenheit.

Schließlich bleibe auch Spitzers Verdikt gegen computerbasierte Lernspiele unbestätigt. Eine durch Computerspiele angereicherte Lehrform zeige sich im Gegenteil dem traditionellen Unterricht überlegen. Überhaupt könne der Computer „lernfördernd“ wirken, wobei sich dieses Hilfsmittel stets dann als besonders effektiv bewähre, wenn gemeinsam gelernt und die Instruktion aktiv durch Lehrende unterstützt werde. Wissenschaftliche Redlichkeit gebiete es jedoch, Spitzer zuzugestehen, daß Befunde auf diesem Sektor der PC-Nutzung zu einem ganz überwiegenden Teil auf Erwachsenenstichproben basieren und experimentelle Studien zur Wirksamkeit von digitalen Medien in Schulen noch „vergleichsweise rar“ sind. Diese Forschungslücke klaffe auch auf einem Nebenkriegsschauplatz im Deutungskampf um die „digitale Demenz“: der Nutzung von Navigationssystemen. Mehr als eine Vermutung, daß deren routinierte Verwendung zur Verschlechterung des räumlichen Orientierungssinns beitrage, lasse sich derzeit kaum riskieren.

Appel und Schreiner empfehlen ihre Mythen-Kritik als Handreichung, um „alarmistische Thesen zu den Auswirkungen“ der Netznutzung zu parieren und deren Verinnerlichung bei Lehrern und Eltern zu verhindern, damit sie Kinder und Jugendliche vorurteilsfrei auf die Herausforderungen des Internets vorbereiten können.

Foto: Computersüchtiges Schulkind: Handelt es sich bei der These, Internetnutzung mache einsam, krank und unglücklich, um einen „Mythos“?

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