© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Tiefes Mißtrauen im Industrierevier
Teilaufstand in der Ostukraine: Während die einen in der Frühlingssonne schlendern, sorgen die anderen für aggressive Stimmung
Billy Six

Im Fernsehen geht es zur Sache: Tiefflieger, Panzer, Tote. Seit zwei Wochen blicken die Weltmedien gebannt auf die jüngste Etappe im ukrainischen Drama. In den östlichen Oblasten ist der Widerstand gegen die Übergangsführung von Kiew erneut eskaliert.

Europas zweitgrößter Staat droht entlang einer ungezogenen Grenze zu zerfallen. Östlich des Dnjepr: der widersprüchlich gemischte frömmlerisch-orthodoxe und atheistisch-kommunistische, in jedem Falle jedoch kulturell russische Landesteil. Im Westen jedoch: die um Nationenbildung bemühte Wiege altslawischer Kultur. Katholisch beeinflußt, proeuropäisch und vor allem individualistisch.

„In Kiew herrschen jetzt Faschisten“

Die Dramatik der Ereignisse schlägt sich, ähnlich wie während der Krim-Krise, im Alltag der Menschen jedoch nur begrenzt nieder.

Ostern in Donezk, dem Zentrum des jüngsten Aufstands. Frühlingswärme und wechselhaftes Aprilwetter haben Einzug gehalten in der Industriemetropole mit ihren rund einer Million Einwohnern. Mütter schieben ihre Kinderwagen durch die Parks, Strom und Wasser fließen normal, die Läden sind offen. Auf den meisten Verwaltungsgebäuden weht die blau-gelbe Flagge der unabhängigen Ukraine. Einzig die Stadthalle, Sitz von Stadtrat und Bürgermeisteramt, befindet sich im Ausnahmezustand. Hier ist es zu finden. Das Herz des „Anti-Maidan“.

Im geschätzt mehr als hundert Meter breiten Hochhaus sind in wechselnden Schichten einige Hundert Menschen aktiv. Mit ihrer Besetzung wollen sie die jüngst proklamierte „Volksrepublik Donezk“ beschützen. Alexandr Maltser, 25jähriger Organisator im improvisierten Medienzentrum des siebten Stocks, berichtet von seinen Erfahrungen: „Am 6. April haben wir zu Tausenden dieses Gebäude übernommen und die russische Fahne gehißt.“

Der gelernte Informatiker verfügt über genügend Freizeit, seit sein Arbeitgeber unlängst die Eingangstore schloß: „Die Fabrik reparierte Bergbaumaschinen. Doch nun bleiben all die Zechen wegen der zurückgefahrenen Nachfrage aus Rußland auf ihrer Kohle sitzen.“

Der junge Mann ist gebildet. Doch mit Blick auf die Hintergründe dieses Aufruhrs zählen auch für ihn in erster Linie die gängigen Parolen: „In Kiew herrschen jetzt Faschisten. Sie wollen unsere Leute töten.“ Diese Sorgen heizt der 32jährige Geschäftsmann Denis Puschilin an, der sich sporadisch als Anführer der Separatisten auf der Vorplatz-Bühne zeigt. Mit sanftem Lächeln erklärt der weithin unbekannte Neu-Politiker im kurzen Gespräch, daß der „Rechte Sektor“ Guerilla-Aktionen im Osten der Ukraine durchführe. „Und solange Jazenjuk diese Leute nicht entwaffnet, wie bei der Genfer Vereinbarung beschlossen, werden wir unsere Waffen auch nicht niederlegen.“ Dann verschwindet der adrett gekleidete Aktivist so schnell im Gebäude, wie er gekommen war. Seine Leibwächter: maskierte Bürger mit Knüppeln. Wer ihrem Chef zu nahe kommt, handelt sich Ärger ein – selbst wenn es sich um ein einvernehmliches Gespräch handelt.

Es herrscht Mißtrauen. Draußen, vor den zweireihigen Barrikaden aus Sandsäcken, Holzpaletten und Stacheldraht stellen sich die „Selbstverteidigungskräfte“ als besonders problematisch dar. Einige von ihnen sind angetrunken oder berichten stolz von Erfahrungen im Gefängnis. „Deutsche Schweine“ oder „Faschisten kaputt“ sind einige der Sprüche, die mir beim ersten Besuch entgegengehalten werden. Sogar die vor Ort aktiven Großmütter machen auf die gleiche Art und Weise mit: „Geh zurück nach Europa. Wir wollen euch nicht.“

Wie schnell die Lage sich aufheizen kann, stellt die Aktion eines proukrainischen Einzelkämpfers dar: Nachdem er sein Transparent entrollt hat, wird er von der Menge umringt und körperlich angegangen. Während ein Raunen über den Platz zieht, zeigt sich, wer doch immer noch die Macht in den Händen hält: die Polizei. Beamte mit ukrainischen Abzeichen führen „den Faschisten“ ab. In Sicherheit. „Aber sie sind mit uns“, sind sich die Maskierten aus allen Teilen der Donezk-Region sicher.

Nur der 46jährige Kommandeur Sergej K. ist weniger euphorisch: Der Seemann aus Mariupol hat seine Arbeit bereits im März für die Revolution an den Nagel gehängt – und trägt jetzt Tarnfarben.

Als am 16. April das Gerücht umging, die Armee in der Stadt am Asowschen Meer würde die Seiten wechseln, seien er und 500 weitere Protestierer zur Kaserne gezogen, „um 150 bis 200 eingeschlossene Wehrpflichtige zu befreien“. Einige ihrer Väter seien auf das Gelände vorgedrungen, berichtet Sergej: „Und zwar unbewaffnet.“ Dann fielen die Schüsse. „Es war Sperrfeuer. Auch Granaten“, so Sergej. Er habe zwei Tote gesehen, aber es seien „mit Sicherheit mehr“ als die offiziell veranschlagten vier Opfer. Seine Familie hat er zurücklassen müssen. „Ich bin nur noch sicher in Donezk und werde dieses Gebäude der Revolution verteidigen.“ Bis heute könne er nicht verstehen, wieso die anfangs wohlwollenden Sicherheitskräfte seiner Heimatstadt „dem Volk nicht zu Hilfe gekommen“ seien. „Mariupol lebt vom Export von Stahl und Maschinen nach Rußland. Ein EU-Beitritt mit Schließung der Grenzen würde uns töten.“

„Leider interessieren sich viele Journalisten nicht für die Zusammenhänge“, behauptet Alex Makarov, der Ökonomie studiert hat. Derzeit versuche er sich finanziell damit über Wasser zu halten, Reporter umherzuführen. „Aber sie sagen: Zeig uns zehn Leichen, dann kommen wir ins Geschäft.“ Alex zuckt mit den Schultern: „Noch wird hier nur von Politik geredet. Aber wenn es um die Wirtschaft geht, darum ob die Familien noch ernährt werden können oder nicht – dann erst beginnt die echte Krise. Sei dir sicher: Die Kumpels vom Schacht geben sich nicht mit dem Rathaus hier zufrieden. Die wissen, wo sie hinmüssen – nach Kiew.“

Foto: „Selbstverteidigungskräfte“ vor dem Rathaus in Donezk: Nicht wenige sind angetrunken. „Deutsche Schweine“ und „Faschisten kaputt“ sind einige ihrer Sprüche

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