© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Eine Sonde einführen
Nerv getroffen: Zur Debatte um Akif Pirinçcis Buch „Deutschland von Sinnen“
Karlheinz Weissmann

Die Debatte um Akif Pirinçcis Buch Deutschland von Sinnen findet kein Ende. Debatte ist allerdings zuviel gesagt, denn es geht nur ausnahmsweise um den Inhalt oder den Austausch von Argumenten. Gemeinhin attackiert man Autor, Verleger, Leser des Buches, beschimpft sie wegen ihres schlechten Geschmacks, ihrer Wortwahl oder ihrer politischen Orientierung.

Das ist wegen Pirinçcis Migrationshintergrund ein wenig heikel, aber doch nicht ausgeschlossen, und gar keine Zurückhaltung muß sich der Kritiker auferlegen, wenn es um die Frage geht, wer dieses Buch, aus welchen Gründen mit welchen Absichten auf den Markt gebracht hat, wen er damit erreichen will und wer das Projekt aus ideologischen Motiven begrüßen dürfte.

Den Hauptverdächtigen hat Richard Gebhardt in einem vorige Woche erschienenen Beitrag der Zeit klar benannt: die „neue Rechte“. Dahinter verbergen sich die üblichen Verdächtigen, also JUNGE FREIHEIT, Eigentümlich frei, Sezession und nun auch Pirinçcis Verlag Manuscriptum. Was den Text von Gebhardt interessanter macht als andere, ist seine argumentative Schizophrenie. Gemeint ist nicht die übliche, also zwischen „zu Hitler fällt mir nichts ein“ und „Hitler ad portas“, sondern die zwischen „anachronistisches Milieu randständiger Intellektueller“ und drohende „Mobilisierung der ‘Mitte’“ von rechts.

Gebhardt mag natürlich die Kulturkritik, die Einwendungen gegen fremde Landnahme und Feminismus sowenig wie die Bezugnahme auf böse Denker, aber er ist nicht sicher genug, um im triumphalen Ton und ohne Zögern auf Modernisierungsverlierer zu schließen. Er hat sogar das eine oder andere gelesen, verschont auch mit den üblichen NS-Vergleichen, nicht einmal „antidemokratisch“ kommt vor.

Der Hinweis auf die unkonservative Lebenshaltung wichtiger konservativer Hausheiliger sei ihm gegönnt und auch, daß er die Biographie des Manuscriptum-Besitzers Thomas Hoof – vom Geschäftsführer der nordrhein-westfälischen Grünen zum Erfinder der Marke Manufactum zum „rechtslibertären“ Verleger – nur mit Hilfe von Politologenwissen (Kontaminierung der Ökobewegung durch nationalrevolutionäre Ideen) erklären kann. Wichtiger ist in jedem Fall, daß selbst für einen feindseligen Beobachter wie Gebhardt die beiden denkbaren Konzepte einer „neuen Rechten“, die weder auf die Feldherrnhalle marschieren noch mit den „Feierabend- und Sonntagskonservativen“ der Union verwechselt werden will, deutlich genug hervortreten:

1. Schaffung einer „Bewegung“ von den Rändern her, wenn möglich unter Einbeziehung nicht nur gewisser Stilelemente, sondern auch von Personal und Potential der Linken, konsequent antiliberal, fähig, aus einer sich verschärfenden ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Krise die notwendige Dynamik zu gewinnen.

2. Schaffung einer „Partei“ durch Einflußnahme auf das Zentrum, Korrektur der Linksverschiebung des weltanschaulichen Spektrums, dabei fallweise Kooperation mit Authentisch-Liberalen, ausgehend von der Vorstellung, daß eine Transformation der bestehenden politisch-sozialen Ordnung noch möglich ist.

Als Muster für die erste Variante kämen die „Identitären“ in Frage, als Muster für die zweite die „Alternative für Deutschland“. In beiden Fällen handelt es sich um neuartige politische Phänomene. Die Identitären als eine Art Graswurzelbewegung, in Frankreich entstanden, mittlerweile zaghaft auf Belgien, Deutschland und Österreich ausgreifend, die ein Menschenrecht auf Identität reklamiert und sich gegen Überfremdung zur Wehr setzt, ihre Aktionen haben etwas von rechtem „Spontitum“; die AfD als eine Partei, die ursprünglich als radikalliberales Projekt von Euro-Gegnern erschien und den Eindruck erweckte, als bleibe ihr nichts anderes, als die Muster ähnlicher populistischer Gruppierungen in den Nachbarländern zu kopieren, die dann aber überraschend schnell auch zum Anziehungspunkt für Konservative wurde, zwar am Einzug in den Bundestag scheiterte, aber für die bevorstehende Europawahl alle Aussichten auf Erfolg hat.

Weder „Bewegung“ noch „Partei“ stehen vor einer Durchbruchssituation. Das weiß selbstverständlich auch Gebhardt. Was ihn beunruhigt, ist die Tatsache, daß „Pirinçcis Gedanken zu den Reizthemen der Gegenwart (…) einen Nerv getroffen“ haben, daß nicht nur endlich einmal jemand ausspricht, was viele heimlich denken, sondern daß es dem Gegner gelungen sein könnte, einen „medialen Coup“ zu landen. Das letzte dürfte für einen Autor der Zeit besonders irritierend sein, ist man bei den Leitmedien doch gewohnt, den Ton anzugeben, das heißt jeden Hype sorgfältig vorzubereiten und zu orchestrieren. Hier sieht man sich plötzlich den Unwägbarkeiten offener Meinungsbildung gegenüber, muß erkennen, keineswegs alles unter Kontrolle zu haben, nimmt zwar irgendwo Drahtzieher an, bleibt aber ratlos auf der Suche und ist noch nicht so verzweifelt, eine Verschwörung zu mutmaßen.

Unwägbarkeiten sind ein oft verkannter Faktor der politischen Entwicklung. Bedauerlicherweise, muß man sagen. Bismarck hat von „Imponderabilien“, gesprochen, „die viel schwerer wiegen als die materiellen Gewichte“. Die materiellen Gewichte bestimmen heute wie eh und je die Besitzverhältnisse und die Mehrheitsverhältnisse und die persönlichen Verhältnisse, in denen die Mächtigen zueinander stehen. Daran läßt sich von außen wenig ändern, aber man hat von außen den Vorzug der Beobachterposi-tion, kann den Blick schärfen, gelegentlich Witterung aufnehmen, Atmosphäre und Stimmungslage prüfen, und ab und zu eine Sonde einführen, um zu klären, ob die Verhältnisse noch so sind.

Was auch immer sich Verleger und Verlag von der Publikation erwarteten, was auch immer Sympathisanten und anonyme Käuferscharen trieb: Pirinçcis Buch diente als Sonde. Eine Sonde, die es erlaubt, Informationen aus schwer zugänglichen Bereichen zu gewinnen, etwa der tatsächlichen Meinung des gemeinen Bürgers zu üblicherweise beschwiegenen Themen. Diese Aufgabe hat „Deutschland von Sinnen“ erfüllt – und das erklärt die Besorgnis Gebhardts.

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