© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Mutterseelenallein wandelt René Kollo zwanzig Minuten vor Beginn der „Parsifal“-Aufführung durch das Foyer der Deutschen Oper Berlin. Ich bin überrascht, ihn hier zu sehen. Erst vor vier Wochen hatte der große Wagner-Tenor der siebziger und achtziger Jahre in einem Interview bekannt, er meide die Berliner Opernhäuser „weil ich mich jedesmal ärgere: über diesen Sänger und über das, was passiert, oder über das, was alles nicht passiert“ (JF 13/14). Ich nutze also die Gelegenheit und spreche ihn an. Sage ihm, daß ich sein Interview gelesen habe, und frage, wie es denn komme, daß er hier ist. „Ach, wissen Sie“, sagt er, „Augen zu und durch.“ Ja, man könne Wagner heute nur noch mit geschlossenen Augen in der Oper hören. „Das hat mit Wagner nichts mehr zu tun.“ Ich wünsche ihm trotzdem viel Spaß.

Narcissus betrachtet sein Spiegelbild heute nicht mehr an einer Wasserquelle, sondern im Fitneßstudio.

In dem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung erzählte René Kollo auch, daß er Ehrenmitglied der Deutschen Oper Berlin sei, die Generalprobe besuchen und in der Pause gehen könne. „Aber wenn ich irgendeine Vorstellung besuche, kann ich nicht weg, denn so weit kennt man mich dann doch. Das heißt, ich muß bis zum Schluß bleiben, also bleibe ich lieber gleich ganz weg.“ Doch hier ist er jetzt, und erkannt wird er nicht nur von mir. Zwei jüngere Männer lassen sich von ihm ein Autogramm in ihr „Parsifal“-Programmheft schreiben.

Zwischen einem Fitneßstudio und einer Tattoo-Messe besteht hinsichtlich der Vielzahl von zur Schau gestellten Körperverzierungen kaum mehr ein Unterschied.

René Kollo sitzt zwei Reihen vor mir. Soweit ich das sehen kann, hält er die Augen offen. Spärlich applaudiert er nach dem ersten Akt, noch spärlicher nach dem zweiten. Offenbar reicht es ihm nun endgültig. Zügigen Schrittes eilt er ins Restaurant. Zum dritten Akt erscheint er nicht mehr.

Um im Fitneßstudio aufzufallen, bedarf es keiner körperlichen Anstrengung. Im Zweifel genügt es auch der unsportlichsten Erscheinung, knallig-leuchtende Neonfarben zu tragen. Das ist aber noch nichts im Vergleich zu dem Typen neben mir auf dem Crosstrainer – er läuft mit einer Gasmaske. Sein T-Shirt weist ihn als Angehörigen der Berliner Feuerwehr aus. Entweder ist sein Aufzug also beruflich veranlaßt – oder er lebt ganz ungeniert einen Fetisch aus.

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