© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Überschätzte Machtgefüge
Ukraine: Während sich die Milizen hochschaukeln, lavieren Kiew und Moskau zwischen starken Worten und zögerlichem Nichtstun
Thomas Fasbender

Die Propagandawellen überschlagen sich. „Rußland will den Dritten Weltkrieg“, behauptete der ukrainische Premier Arsenij Jazenjuk Ende vergangener Woche. Die Gegenseite zahlt in gleicher Münze. Was aber geschieht unterhalb des Radars, in den ukrainischen Regionen – wer kontrolliert wen, wer hört auf wen, wer ist Koch und wer der Kellner?

Die Genfer Vereinbarung setzte hohe Ziele: Gewaltverzicht, Entwaffnung und die Räumung besetzter Gebäude und öffentlicher Flächen. Die Ergebnisse fielen mager aus. In den aufständischen Gebieten waren nach Genf weder Räumungen noch Entwaffnungen festzustellen. Noch am Tag der Unterschrift des Abkommens hatte Denis Puschilin, „Volksgouverneur“ der „Volksrepublik Donezk“, deutlich gemacht, daß der russische Außenminister Sergej Lawrow die Vereinbarung „nur für die Russische Föderation“ unterzeichnet habe.

Rechter Sektor macht in der Ukraine weiter mobil

Auch der Sprecher des Rechten Sektors, Artjom Skoropadski, unterstrich, daß der Aufruf zur Entwaffnung seine Formation nicht betreffe: „Wir sind die Speerspitze der ukrainischen Revolution und nicht zu vergleichen mit ausgemachten Gangstern.“ Dementsprechend blieben Plätze und Gebäude auch in Kiew weiterhin besetzt. Das Bürgermeisteramt wurde erst Anfang dieser Woche von den Anhängern der Revolution geräumt. Teile der Zeltstadt auf dem Maidan stehen immer noch.

An der Strecke von Odessa zur abtrünnigen moldawischen Region Transnistrien, wo seit Jahren russische Truppen im Einsatz sind, hat der Rechte Sektor neue Straßensperren errichtet. Die ukrainische Polizei, so der stellvertretende Parlamentschef Transnistriens, Sergej Tscheban, lasse den Aktivisten freie Hand. In Kolomyja besetzten Aktivisten des Rechten Sektors die Stadtverwaltung aus Protest gegen die Ernennung eines neuen Landrats.

Ein Moskauer Geschäftsfreund, dessen Bruder in der Westukraine wohnt, erzählt von zunehmendem Bandenunwesen. Die russischsprachigen Bewohner trauten sich nur noch im Konvoi mehrerer Fahrzeuge aus dem Dorf. Ansonsten laufe man Gefahr, angehalten und ausgeraubt zu werden. Russischsprachige seien gezwungen worden, die ukrainische Nationalhymne zu singen. Wer den Text nicht gekannt habe, dem sei übel mitgespielt worden. Moskauer mit privaten Kontakten in die Ukraine berichten über wachsende Straßenkriminalität in allen Regionen.

Wenige Tage nach dem Genfer Treffen, bei dem die Entwaffnung aller zivilen Strukturen vereinbart worden war, verkündete der Chef des Rechten Sektors, Dmitro Jarosch, die Aufstellung eines 800 Mann starken Bataillons zum „Antiterror-Kampf“ im Donbass „in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen“. Gleichzeitig forderte er von Staatspräsident Alexander Turtschinow die Bewaffnung „patriotischer Verbände“ für den „Partisanenkampf“.

Auch die polnische Minderheit im Westen des Landes stellt Autonomieforderungen. Der Gebietschef von Schytomyr, Sidor Kysin, beruft sich dabei auf die jahrzehntelange Verfolgung und Diskriminierung durch die ukrainische Staatsmacht.

Journalisten haben mit den schwersten Stand. Über die Entführungen westlicher Berichterstatter durch Separatisten berichten die Medien ausführlich. Russische Reporter bleiben von Übergriffen nicht verschont, zumal in den von der Regierung kontrollierten Gebieten. Russia Today veröffentlichte ein Video, das zeigt, wie ein Journalist zum Kniefall vor ukrainischem Militärs gezwungen wird. In Wyschnewe, einer Kiewer Satellitenstadt, wurde die Reporterin der Internetplattform PrawdaTut, Vita Kolomiez, nach kritischen Berichten aus dem Stadtparlament zusammengeschlagen.

Nicht wenige Beobachter kritisieren inzwischen, daß die internationale Gemeinschaft den Einfluß der Regierungen in Kiew und Moskau auf die eigentlichen Akteure massiv überschätze. Der Kiewer Politologe Wassilij Stojakin, ein Mann aus dem Umfeld des Präsidenten Alexander Turtschinow, beschreibt die Lage seiner Regierung zwischen Zögern und Bürgerkrieg: „Sie zweifeln und haben Angst vor den unwiderruflichen Folgen, auch für sich persönlich.“ Noch am härtesten, so Stojakin, seien die Amerikaner gestimmt. Ständig forderten sie von Kiew ein entschiedenes Vorgehen.

Foto: Ostkrainischer„Selbstverteidigungsmilizionär“ in Slowiansk: Weder den Worten Kiews, Washingtons, Brüssels folgen noch denen aus Moskau

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