© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Die imperialen Bestrebungen kamen aus St. Petersburg
Auslöser des Ersten Weltkriegs: Der englische Historiker Sean McMeekin über die verhängnisvolle Rolle Rußlands vor 1914
Werner Lehfeldt

Christopher Clarks Buch „The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914“ (2012), das in diesem Blatt bereits am 12. April 2013 vorgestellt wurde, hat nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im vergangenen Herbst in Deutschland eine breite Debatte über die Frage ausgelöst, wie es im Sommer 1914 zur Entfesselung eines Krieges hat kommen können, der als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) mit seinen Millionen von Gefallenen und Verwundeten und mit seinen unvorstellbaren Zerstörungen sämtliche bis dahin geführte Kriege in grausiger Weise übertreffen sollte. In dieser Debatte sollte unbedingt auch ein Werk eines anderen englischsprachigen Autors berücksichtigt werden, „The Russian Origins of the First World War“ von Sean McMeekin, der in Istanbul an der Koc-Universität als Geschichtsprofessor lehrt.

Niall Ferguson hatte 1999 in seinem Buch „The Pity of War“, das auf deutsch im selben Jahr unter dem Titel „Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert“ erschienen ist, die Frage gestellt, ob es nicht eher im britischen Interesse gelegen hätte, sich nicht am Krieg zu beteiligen und stattdessen Deutschland als Hegemonialmacht auf dem europäischen Kontinent zu akzeptieren.

Aggressiver russischer Drang in Richtung Balkan

Und er hat diese Frage entschieden bejaht: „Es wäre uneingeschränkt vorzuziehen gewesen, wenn Deutschland seine Hegemonialstellung auf dem Kontinent ohne die beiden Weltkriege hätte erreichen können. (…) Indem sie 1914 gegen Deutschland in den Krieg zogen, halfen Asquith, Grey und ihre Kollegen dafür zu sorgen, daß Großbritannien, als Deutschland schließlich die Vorherrschaft auf dem Kontinent erreichte, nicht mehr stark genug war, dazu ein Gegengewicht zu bilden.“

Sean McMeekin versteht sein Buch als Gegenentwurf, als Einwand gegenüber derartigen antiinterventionistischen Ansichten. Er insistiert zwar darauf, daß es wichtiger sei, eine andere Frage zu stellen, nämlich warum Großbritannien sein Empire aufs Spiel gesetzt und eine ganze Generation seiner jungen Männer geopfert habe, um die imperialen Bestrebungen Rußlands zu befriedigen, Bestrebungen, die das britische Publikum seit mehr als einem Jahrhundert in Atem gehalten und mit Abscheu erfüllt hätten. Jahrzehntelang hätten Historiker, Politiker und Sesselstrategen ihr Feuer auf das kaiserliche Deutschland als den Hauptanstifter des europäischen Konflikts konzentriert. Es sei nunmehr höchste Zeit, daß Rußland sein beträchtlicher Anteil an Verantwortung zugemessen werde für seine Rolle bei der Auslösung des furchtbaren Kriegs von 1914 und bei dessen Ausdehnung auf den Nahen Osten.

Der Beantwortung eben dieser Frage ist das gesamte Buch von Sean McMeekin gewidmet. Anhand zahlreicher, gerade auch russischer Dokumente und Quellen wird aufgezeigt, daß die russische Führung 1914 den Krieg anstrebte, um mit Unterstützung ihrer westlichen Alliierten ein Ziel zu verwirklichen, das seit der Bosnienkrise 1908/1909 über sämtliche folgenden Krisen hinweg ihre erste strategische Priorität gebildet hat, die Erlangung der Kontrolle über die Meerengen und des Besitzes von Konstantinopel, schließlich auch der Kontrolle über Nordpersien.

Der Schutz der serbischen „Brüder“ als Casus belli war demnach nur ein Vorwand, um dieses Ziel zu verschleiern, ein Ziel, für dessen Erreichung sich die leitenden englischen und französischen Politiker bis zum Zusammenbruch Rußlands in der Oktoberrevolution von 1917 zum Schaden ihrer Länder mit aller Kraft eingesetzt haben. Wie das im einzelnen geschah, wird in den neun Kapiteln des Buches im Detail dargelegt.

England und Frankreich als nützliche Idioten Rußlands

Als Beispiel sei hier nur das schließlich fehlgeschlagene Gallipoli-Landungsunternehmen vom Frühjahr 1915 auf der türkischen Dardanellen-Halbinsel genannt, an dessen Ende Großbritannien, Frankreich und das „Australian and New Zealand Army Corps“ (ANZAG) etwa 50.000 Gefallene und 100.000 Verwundete zu beklagen hatten, die dafür geopfert worden waren, um Rußland zur Verwirklichung seines jahrhundertealten Traums von der Besitzergreifung „Cargrads“ zu verhelfen, ohne daß sich Rußland selbst in nennenswerter Weise an diesem Unternehmen beteiligt hätte, welches im Januar 1916 mit der Evakuierung der restlichen alliierten Truppen endgültig scheiterte.

Wie wenig Rücksicht die russischen Politiker ihrerseits auf die Interessen ihrer Verbündeten nahmen, wird auch am Beispiel des Kriegsbeginns im August 1914 aufgezeigt. Ungeachtet dringender französischer Vorstellungen, Rußland möge seine Hauptstreitkraft gegen Deutschland richten und einen Vorstoß in das Reich unternehmen, konzentrierte der Generalstab zwei Drittel der ihm zur Verfügung stehenden Kräfte – vier Heeresgruppen mit etwa 1,2 Millionen Soldaten – an der Südwestfront, wo diesen nur schwache österreichisch-ungarische Truppen gegenüberstanden, und verwendete eine lediglich halb so große Streitmacht, zwei Armeen, für die Invasion Ostpreußens. Der Grund für diese den französischen Interessen so abträgliche Kräfteverteilung war der, daß die erste operationale Priorität der russischen militärischen Planung gegen die Mittelmächte die Eroberung des zu Österreich gehörenden Galiziens vorsah, wo an den Karpaten die „natürliche Grenze“ Rußlands errichtet werden sollte.

Im Schlußkapitel konstatiert der Autor, daß selbst eine abgeschwächte, verwässerte Fischer-These unhaltbar sei, wenn man das berücksichtigt, was man heute über Rußlands frühe Mobilisierung seiner Streitkräfte gegen Deutschland und Österreich-Ungarn weiß. Auch Frankreichs bekannt gewordene Mitwirkung an dem – schließlich auch gelungenen – Manöver des russischen Außenministers Sergei Sasonow, den englischen Verbündeten über Rußlands Absichten in die Irre zu führen und zum Kriegseintritt gegen Deutschland zu veranlassen, bestätigt diese Analyse. „Der Krieg von 1914 war in höherem Maße ein Krieg Rußlands als ein Krieg Deutschlands.“ Es bleibt zu hoffen, daß auch „The Origins of the First World War“ bald in deutscher Übersetzung erscheint.

Sean McMeekin: The Russian Origins of the First World War. The Belknap Press of Harvard University Press. Cambridge 2013, broschiert, 324 Seiten, 17,10 Euro

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