© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Ernüchternde Bilanz
Südafrika: 20 Jahre nach Ende der Apartheid erscheint die ehemalige Perle Afrikas glanzlos / Gegensätze zwischen der neuen Elite und der Masse verschärfen sich
York Tomkyle

Das war mal ein Paradies, mein Paradies.“ Mike Paulus wirft noch ein Scheit ins Feuer und schaut dabei zu, wie die Flammen daran emporlecken. Letztes Jahr, sagt seine Frau währenddessen, sei fünf Mal im Haus eingebrochen worden. Beim sechsten Mal habe die Putzfrau das Stahlgitter in der Eingangstür nicht schnell genug geschlossen, so daß es genau genommen kein Einbruch, sondern ein Raubüberfall war.

In bemüht sachlichem Ton schildert sie, wie sie ihre Putzfrau dann von Fesseln und Knebel befreite, als sie später ihr durchwühltes Haus betrat. Aber die Anspannung ist ihr doch anzumerken, als sie meint, es wäre wohl anders ausgegangen, wenn sie selbst zu Hause gewesen wäre – eine Anspielung auf die Angewohnheit vieler Täter, vor dem Raubzug durchs Haus dessen (weiße) weibliche Bewohner zu vergewaltigen und zu töten, wenn diese zu ihrem Unglück zur Tatzeit anwesend sind.

Die alten Zeiten waren doch nicht so schlecht

Während die Sonne jenseits der Bucht des kleinen kapstädter Vorortes Hout Bay untergeht und den afrikanischen Himmel für ein paar Momente in allen Rotschattierungen schimmern läßt nimmt Paulus den Potjie aus dem Feuer – es gibt Huhn mit Reis nach einem alten Voortrekkerrezept.

So wie diese alten Siedler, die das Land damals in Besitz nahmen, hätten sie sich gefühlt, damals als die Apartheid abgeschafft wurde – wie Pioniere beim Aufbruch in eine neue glücklichere Zeit. Oft hätten er und seine Frau sich während der bleiernen Jahre der Endphase des Systems den Wechsel herbeigewünscht. Alles habe ja auch so vielversprechend begonnen, damals, als Mandela aus dem Gefängnis kam. Der gewaltfreie Wechsel, die Wiederaufnahme in der Kreis der zivilisierten Völker, das Ende der wirtschaftlichen Sanktionen und natürlich: eine Demokratie nach westlichem Vorbild.

Doch nun, meint er, müsse man ein bitteres Fazit ziehen und er ertappe sich manchmal bei dem Gedanken, daß die alten Zeiten vielleicht doch nicht so schlecht gewesen seien.

So wie Paulus und seiner Frau geht es vielen in der weißen Mittelschicht – in einem Land, dessen neue Eliten in Politik und Medien ihnen zunehmend feindsinnig gegenüberstehen, sehen sie sich als Sündenböcke für Mißstände in Vergangenheit und Gegenwart, deren Lebensqualität zunehmend abgesenkt wird, ohne daß sich dafür Verbesserungen für die Masse ihrer (schwarzen) Landsleute ausmachen ließen.

Es habe sich, so Paulus, lediglich eine neue schwarze Oberschicht gebildet, die sich verwerflicher verhalte als die früheren weißen Herren und das Land zum Schaden aller ausplündere.

Szenenwechsel. Thabo Modise sitzt vor seiner Blechhütte. Auch er hat einen wunderbaren Blick auf die grandiosen Sonnenuntergänge über der Bucht von Hout Bay. Er wohnt in Imizamo Yethu, einem am Ortseingang von Hout Bay gelegenen „Squattercamp“, also einer ursprünglich illegalen Landbesetzer-Siedlung, die später durch Verlegung von Strom- und Wasserleitungen legalisiert wurde. Niemand weiß genau, wie viele Menschen in dieser Siedlung wohnen, Schätzungen gehen von 100 Menschen pro Hektar (Umgebung: bis 25 Menschen/Hektar) aus. Tendenz steigend.

Modise hat den Kreislauf von Armut, Perspektivlosigkeit, Krankheit und Gewalt in der Siedlung zu einem Geschäftsmodell gemacht, das nicht jeder hier gerne sieht: er führt Touristen aus Übersee auf einer Squatter-Tour durch die vermüllten Straßen. Höhepunkt der Tour ist die Besichtigung einer der windschiefen Wellblechhütten nebst AIDS-kranker Besitzerin, die teilnahmslos an die Decke starrt während manchem seiner Kunden bei diesem Anblick schlecht wird.

Thabo Modise ist das, was man einen zynischen Pragmatiker nennen könnte. Wenn er über die Zustände in seinem Stadtteil und in seinem Land spricht könnte man meinen, es gäbe die Apartheid noch. Nur mit dem Unterschied, daß die Herrschenden jetzt schwarz sind und nicht mehr weiß. Er meint, er sei jahrelang gelähmt gewesen von der Enttäuschung über das, was aus seinen Träumen nach dem Ende der Apartheid geworden sei. Täglich habe er einsehen müssen, daß es auch nach diesem Ende für die Masse der Schwarzen kein besseres Leben geben würde, daß lediglich die Hautfarbe der Unterdrücker gewechselt habe. Schließlich sei er auf den Gedanken mit der Touristenführung gekommen; das sei immer noch besser als die Raubzüge einiger seiner Nachbarn durch die Häuser der Weißen.

Steigende Kriminaliät – sinkende Bildungschancen

Beide, Paulus und Modise, eint die Verbitterung über die Entwicklung ihres Landes in den letzten 20 Jahren – den Jahren der Freiheit nach dem Ende der Apartheid. Um diese Verbitterung zu verstehen ist ein Blick auf die Kernbereiche staatlicher Macht- und Gestaltungsmöglichkeiten Südafrikas aufschlußreich. Hier sind vor allem die innere Sicherheit, die Bildungsmöglichkeiten, der Gesundheitssektor, die wirtschaftlichen Kennzahlen und die Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu nennen.

Nach dem Ende der Apartheid führten Eingliederung von ANC- und PAC-Kämpfern in die Polizei- und Militärstrukturen des Landes sowie der Enfluß der ANC-gesteuerten Polizeigewerkschaft zu massiven Rassenspannungen mit einer konsekutiven Abwanderung des bestehenden – vornehmlich weißen – Personals in die private Sicherheitsindustrie. Dadurch entstanden zunehmende Vernetzungen mit militanten ANC-Strukturen aus der Kampfzeit und dem organisierten Verbrechen. Dies und die schlechte Bezahlung der Sicherheitskräfte führte in der Folge dazu, daß diese immer stärker selbst in Verbrechen verstrickt sind. Zwischen 2007 und 2009 gingen über 7.300 Dienstwaffen „verloren“, von denen eine erkleckliche Anzahl später eine Rolle in Verbrechen spielte.

Zwischen 1996 und 2001 wurden über 32.000 Polizisten der Korruption überführt, unter diesen auch der Leiter des Dezernats Organisierte Kriminalität sowie andere hohe Polizeiführer. Als Reaktion darauf wurde die ermittelnde Einheit aufgelöst.

Die Rate an im Rahmen von Polizeieinsätzen getöteten Personen hatte sich im Jahre 2009 innerhalb von zwei Jahren um 25 Prozent auf 612 Personen erhöht. Namhafte Kriminologen sehen in der Polizei Südafrikas eine kriminelle Organisation, die tief in Machenschaften wie Mord, Bankraub, Einbruch, Waffen- und Drogenhandel sowie Prostitution verstrickt ist.

Die Folge ist ein unerhörter Anstieg krimineller Delikte wie Mord (18.000/Jahr) oder Vergewaltigung (54.000/Jahr). Für eine heute in Südafrika geborene Frau ist es statistisch gesehen wahrscheinlicher, vergewaltigt zu werden, als Lesen und Schreiben zu lernen.

In der Folge dieser Entwicklung hat es Südafrika in der Liste der gefährlichsten Länder der Welt auf Platz 20 gebracht. Auf dem Bildungssektor fehlten im Jahr 2010 etwa 140 Milliarden Rand und 30.000 Lehrer. Etwa 12 Prozent der Lehrkräfte sind HIV-positiv, viele Schulen verfallen. Trotz dieser Defizite wird das „Curriculum 2005“ weiterhin konsequent umgesetzt – eine Bildungsreform, die das bislang westlich orientierte Bildungskonzept durch ein afrikanisches (weniger Wettbewerb, mehr Miteinander; mehr soziale Kontakte während des Unterrichts; Zurückweisung westlicher Werte; afrikanische Evaluation von Leistungen) ablösen will.

Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen, die im Leistungsvergleich ungleich besser abschneiden: Zwei Prozent eines Abschlußjahrgangs sind Kinder von Buren – diese erzielen 40 Prozent der herausragenden Leistungen dieses Jahrgangs.

Die Afrikanisierung des Schulbetriebs führt zu gravierenden Leistungs- und Ausbildungsdefiziten, sowie zu einer damit einhergehenden Entwertung der Abschlüsse. Außerdem zeigt sich eine immense Schulabbrecherquote von bis zu 77 Prozent .

Insgesamt muß festgestellt werden, daß die in der Apartheid-Ära ausgebildeten Köpfe des ANC der Kampfzeit ungleich besser (aus-)gebildet waren, als die heutige südafrikanische Jugend.

Seit dem Ende der Apartheid sinkt die Lebenserwartung in Südafrika stetig – während sie 1990 noch bei 62 Jahren lag, fiel sie bis auf 52 Jahre (2011). Neben einer der höchsten HIV-Infektionsraten der Welt (12 Prozent der Gesamtbevölkerung) ist auch das zusammenbrechende Gesundheitssystem des Landes dafür verantwortlich.

Umverteilung von Farmland gefährdet Versorgung

Medizinische Fachkräfte verlassen in großem Stil das Land – etwa 30 Prozent der medizinischen Stellen im Land können nicht besetzt werden, es fehlen 4.000 Ärzte und 25.000 Krankenschwestern. Auf 6.000 Einwohner kommt ein Arzt (Deutschland: 1 Arzt/300 Einwohner). Das Gesundheitssystem ist weder in der Lage, die Bevölkerung adäquat zu versorgen, noch den massiven Herausforderungen durch Aids Herr zu werden.

Die Achillesferse ist die Wirtschaft des Landes, deren Leistungsfähigkeit sich durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess verändert. Durch die gesetzlich geregelte Umverteilung von Farmland sowie durch die eskalierende Gewalt gegen die weißen Farmer (JF 36/12) fiel die Zahl kommerzieller Farmer in Südafrika von 69.000 (1993) auf unter 40.000. Die Stellung des Landes als weltweit drittgrößter Exporteur von Agrarprodukten wird sich so auf Dauer nicht halten lassen.

Die Arbeitslosenquote beträgt aktuell offiziell etwa 25 Prozent, inoffiziell liegt sie bei um die 40 Prozent. Zum Abbau dieser hohen Quote wäre mindestens ein jährliches Wirtschaftswachstum von rund sieben Prozent nötig, erreicht werden aktuell knapp über zwei Prozent – viel zu wenig, um die Probleme in den Griff zu bekommen.

Internationale Beobachter kritisieren neben der grassierenden Korruption und einer inkompetenten, mutlosen Führung des Landes auch die sich verschärfenden Gegensätze zwischen den neuen schwarzen Eliten und der Masse der Arbeiter, die sich in einer zunehmend das Land lähmenden Streikfreudigkeit äußern. Südafrika hat 2012 mehr Arbeitstage durch Streiks verloren als jedes andere Land der Welt – siebenmal mehr als noch 2008. Die zunehmend brutalen Reaktionen der Führungsschicht Südafrikas darauf, die im Sommer 2013 einen traurigen Höhepunkt in dem Massaker an über 40 Demonstranten in einer Platinmine bei Rustenburg fanden, spiegeln nicht nur deren Ratlosigkeit wider. Sie ähneln zunehmend dem, was den Weißen in der Endphase des Apartheid-Systems zur Lösung der Krise einfiel.

Mike Paulus und Thabo Modise eint die Enttäuschung über den Zustand ihres Landes. In Südafrika gibt es viele, die das ähnlich sehen. Die Bilanz könnte besser sein 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid.

Foto: Wahlkampf im Township Nyanga bei Kapstadt: Die ANC-Machtelite um Präsident Jacob Zuma hat nur wenig mit den Armen zu schaffen

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