© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Manchmal wird der aufklärerische Zweck der Gegenaufklärung verfehlt. So offenbar bei dem Zitat von Jörg Baberowski in der vorvorigen Ausgabe (JF 16/14): „Hitler war kein Psychopath. Er war nicht grausam. Er wollte nicht, daß an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird. Stalin dagegen hat die Todeslisten voller Lust ergänzt und abgezeichnet, er war bösartig, er war ein Psychopath.“ Es sei also hinzugefügt, daß die Feststellung, Hitler sei kein Psychopath gewesen, Stalin schon, auf den Begriff im klinischen Sinn bezogen ist: bei Hitler gibt es keine Hinweise auf eine geistige Erkrankung, bei Stalin durchaus. Damit hängt auch zusammen, daß Stalin ein Sadist war, Hitler nicht. Deutlich wird das an beider Privatleben: Stalin hat seine eigene Frau getötet oder in den Selbstmord getrieben, seine Tochter ist vor Verzweiflung zum Erzfeind USA geflohen, es war ihm ein teuflisches Vergnügen, das Vertrauen anderer Menschen zu mißbrauchen. Demgegenüber wird Hitler im persönlichen Umgang als angenehm und gewinnend beschrieben, Frauen gegenüber war er charmant. Das bedeutet auch, daß er Massenmorde kalten Sinnes anordnete, allein in Konsequenz seiner Weltanschauung, offenbar ohne Lustgewinn, während es für Stalin ein persönliches Vergnügen war, den Tod über riesige Menschenmengen zu verfügen.

Was an dem Dokudrama zur Spiegel-Affäre so überzeugend wirkte, war das Fehlen aller Lichtgestalten, die Vermittlung der fundamentalen Einsicht, daß die Ausübung von Macht ohne ein erhebliches Maß an Narzißmus und ohne ein Quantum Zynismus nicht zu haben ist, weder im Ministerium noch hinter dem „Sturmgeschütz der Demokratie“. Offenbar hat die Historisierung der Nachkriegszeit eingesetzt.

Die englischsprachige Wikipedia kennt den Begriff „Reeducation“ nur im Zusammenhang von medizinischen oder strafrechtlichen Maßnahmen, weiter in bezug auf sogenannte „Umerziehungslager“ kommunistischer Staaten oder: als „Euphemismus für Gehirnwäsche“.

Schopenhauers Diktum vom Menschen als Tier, das sich langweilen kann, erklärt viel von der Hyperstabilität moderner Gesellschaftsordnung: sie bietet Kurzweil ohne Ende.

Die Kritik an der Serie „Vikings“, die die Wikinger als blut- und beute-durstige Krieger präsentiert, die jenseits von Abenteuer, Kampf, Gold und Beischlaf wenig im Sinn hatten, geht insofern fehl, als man doch annehmen darf, daß solche Amoralität den historischen Tatsachen entspricht und der moderne Mensch sich deshalb ohne schlechtes Gewissen daran unterhält, weil ihm die heidnische Perspektive gar nicht fremd ist.

„Ich glaube bestimmt, daß alle, die Freiheit begehren, sie auch verdienen. Sie ist keine Belohnung für unsre Verdienste, kein Ertrag unseres Fleißes. Sie ist unsre Erbschaft, das Geburtsrecht unserer Gattung.“ (Edmund Burke)

Wenn in der Wissenschaft für die Anerkennung neuer Theorien ein Drei-Phasen-Modell gilt – Ignorieren, Bekämpfen, Akzeptieren, unter Hinweis darauf, daß das schließlich jeder und schon immer gewußt habe –, muß man ähnliches für die Durchsetzung alternativer Weltanschauungen fürchten. Was für die Konservativen heißt, daß ihre Einsichten die Spatzen von den Dächern pfeifen und sie selbst von ihrer Ausdauer und ihrem Stehvermögen nichts haben werden.

Die rituelle Verblüffung angesichts der jährlich wiederkehrenden Gewaltakte bei Maidemonstrationen kann man sich sparen. Abgesehen von der Idylle der Nachkriegszeit gehörten Ausschreitungen immer zum Merkmal linker Aufmärsche: zuerst weil die Veranstaltungen verbotene waren und der Obrigkeitsstaat massiv einschritt, wogegen sich das Proletariat zur Wehr setzte, dann weil die Radikalen die Deckung durch die Braven nutzten, um ihr Mütchen zu kühlen, den revolutionären Geist am Leben zu erhalten oder „Coups“ zu machen – ein alter Mannbarkeitsritus, bei dem es darum geht, so dicht an den Gegner heranzukommen, daß man ihn schlagen kann.

Unter den zahlreichen Gewaltmenschen der Geschichte ist der „kalte“ Täter eine Ausnahmeerscheinung, aber er kommt doch vor. Dabei ist sein Auftreten nicht oder nicht allein aus den historischen Umständen zu erklären, sondern hängt von einer bestimmten seelischen Anlage des Täters ab. Der französische Nervenarzt Augustin Cabanès schrieb über Ro-bespierre, den „Unbestechlichen“, Liebling des Volkes und Herrn des Terrors in den Revolutionsjahren 1793/94: „schneidendste Gefühlskälte neben gefühlvoller Überspanntheit, heroisches Pathos und idyllische Schwärmerei (…) ein tugendhafter Mörder, ein Unmensch aus Humanität, ein Fanatiker kalter und dennoch toll gewordener Reflexion.“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 23. Mai in der JF-Ausgabe 22/14.

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