© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Frei von Selbstzweifeln
Printkrise: Alexander Kissler kritisiert die Zeitgeistmedien, die den ständigen Auflagenschwund fehlinterpretieren
Ronald Berthold

Das Totenglöckchen hört einfach nicht auf zu schlagen. Seit zehn Jahren kennen die Auflagen fast aller Zeitungen und Zeitschriften nur eine Richtung: nach unten. Der Verweis auf geänderte Lesegewohnheiten hat es den in Erklärungsnot geratenen Verantwortlichen bisher leichtgemacht: Schaut her, heißt es da, die Leute lesen ja alles kostenlos im Internet. Ist ja kein Wunder, wenn sie uns nicht mehr kaufen.

Daß sich die Verkaufszahlen in der vergangenen Dekade teilweise halbiert haben, liegt ohne Zweifel auch an der Abwanderung vieler Leser ins Netz. Aber ausschließlich? Die pauschale Ausrede der Branche, das Internet klaue ihr die Kunden, verhindert bisher eine selbstkritische Auseinandersetzung der Journalisten mit der Qualität ihrer Produkte – und auch mit der Leser-Blatt-Bindung. Denn die nimmt nicht nur ab, weil Nachrichten online gratis zu erhalten sind.

Vogel-Strauß-Politik in den Redaktionen

Alexander Kissler hat auf der Cicero-Netzseite eine andere und gleichzeitig ganz einfache Erklärung präsentiert: „An den Lesern wird vorbeigeschrieben.“ Gerade in der Rußland-Berichterstattung oder im Umgang mit dem Bestsellerautor Akif Pirinçci („Deutschland von Sinnen“) zeige sich dies beispielhaft: „So geht man mit den Lesern nicht um.“ Auch Kissler blendet die Konkurrenz des Internets bei seiner Analyse nicht aus. Doch er richtet den Fokus auch auf die immer größer werdende Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. In den sozialen Medien löste der Ressortleiter mit der These eine Debatte aus, und viele stimmten zu.

Denn Kissler spricht vielen Lesern und vor allem Ex-Abonnenten aus der Seele: „Immer mehr Menschen haben den Eindruck, da werde an ihrem Leben, ihren Eindrücken, ihren Haltungen vorbeigeschrieben. Da bastle sich eine abgehobene Medienelite die Welt, wie sie ihr und nur ihr gefalle. Da herrsche der teils übellaunige, teils zwangsironische Nörgelton der Hyperkorrekten und Dauerbesorgten, der Schönredner und Weggucker und Besserwisser.“ Was bei Facebook und Twitter zu zahlreichen Reaktionen führte – allein auf der Cicero-Webseite drückten mehr als 1.000 Leser innerhalb kürzester Zeit den „Gefällt mir“-Knopf –, blieb in den Leitmedien ohne Resonanz. Nicht ein Angesprochener antwortete dem Kritiker – weder zustimmend noch ablehnend. Es herrscht Vogel-Strauß-Politik in den Redaktionsstuben. Diese Mentalität war schon zu beobachten, als vor gar nicht allzu langer Zeit viele Tageszeitungen ausführlich darüber berichteten, wie wenig Glaubwürdigkeit Politiker einer neuen Umfrage zufolge in der Bevölkerung genießen. Daß – und vor allem die Gründe, warum – Journalisten ebenfalls am Ende der Skala rangieren, blieb unerwähnt.

Die „abgehobene Medienelite“ kann eben offenbar wunderbar austeilen, sich gegenseitig feiern, aber Selbstzweifel gelten immer noch als Nestbeschmutzung. Die Hartnäckigkeit, mit der in den besonders emotionalisierenden gesellschaftspolitischen Fragen – wie Euro-Rettung, Zuwanderung und innere Sicherheit – die Empfindungen vieler Leser geradezu nachhaltig verletzt werden, grenzt an kindlichen Trotz. Obwohl die Kunden in Scharen davonlaufen, scheint dies kein Umdenken auszulösen. Kissler bringt es sehr zugespitzt auf den Punkt: „Man achte nur auf die stetig wachsende Schere zwischen dem Tenor der jeweiligen Kommentare zum Weltgeschehen und den Leserbemerkungen gleich darunter. Die Entfremdung macht Fortschritte. Leser an Medium: du lügst, es ist ganz anders. Medium an Leser: Schnauze.“

Zeitungen gehören zur Familie

Einer der wenigen, der sich konstruktiv mit der Vertrauenskrise des Journalismus auseinandersetzt, ist der Spiegel-Reporter Cordt Schnibben. Bereits vor einem Dreivierteljahr startete er einen Dialog mit seinen Lesern, was diesen denn nicht gefalle. Als eine der „Hauptursachen des Zeitungsdramas“ sieht Schnibben nicht nur das Internet an sich, sondern daß dieses eine „Gegenöffentlichkeit zu den klassischen Medien“ schaffe, „indem es sie plündert, ihnen die Kontrolle raubt und den Heiligenschein“. Der Spiegel-Mann meint, das Netz „zwingt die Printmedien, ihre Zeitungen nicht mehr wie Care-Pakete über den Lesern abzuwerfen“.

Schnibben hat recht. Kein Mensch befindet sich heutzutage mehr in Informationsnot. Niemand braucht eine Zeitung, um auf den neuesten Stand zu kommen. Aber Zeitungen erfüllen auch andere Funktionen: Sie gehören irgendwie zur Familie, liegen beim Frühstück auf dem Tisch, ihre Themen bieten Anregungen für die Diskussion beim Abendbrot. Wenn aber die Entfremdung immer größer wird, läßt sich der Leser irgendwann scheiden. Er will nicht mehr – wie Schnibben es mit einem treffenden Bild formuliert – der „Gefangene des Journalisten“ sein.

Insofern sind die rapide zurückgehenden Auflagenzahlen der etablierten Printmedien auch die Folge eines Ausbruchs: Die Leser verlassen das politisch korrekte Gefängnis, das ihnen ihre Zeitung gemauert hat.

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