© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Rußland – ein Rätsel?
Putins Mission
Thomas Fasbender

Rußland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, verborgen in einem Geheimnis“, lautet Winston Churchills vielzitierte Einschätzung des fremden Nachbarn im Osten aus dem Oktober 1939. Dabei wird unterschlagen, daß der britische Premier unmittelbar im Anschluß den Schlüssel erwähnte, mit dem das Rätsel zu knacken sei: Rußlands nationales Interesse.

Dieser Schlüssel öffnet auch den Zugang zum Handeln und Denken der jetzigen Kreml-Elite, allen voran des Präsidenten Wladimir Putin. Die Bezeichnung Nationalist ist bei Putin sicher nicht falsch. Doch bleibt die Charakterisierung, wie es sich für Rußland gehört, doppelbödig. Es ist nämlich kein russischer Nationalismus, den Putin vertritt, sondern ein rußländischer – ein wesentlicher Unterschied.

Wenn wir im Deutschen gemeinhin von der Russischen Föderation sprechen, ist das falsch übersetzt. Im Russischen heißt es Rossijskaja Federazija, also Rußländische Föderation, nicht Russkaja Federazija. Ebenso der Staatsbürger: korrekt wäre nicht Russe, sondern Rußländer – Rossijan. Russe ist eine ethnische Bezeichnung, Rußländer nicht. Und Putins rußländischer Nationalismus ist damit ein überethnischer Nationalismus, bei dem die Volkszugehörigkeit in den Hintergrund tritt.

Worum geht es einem Nationalismus, der sich nicht primär auf die ethnische Herkunft stützt, sich also kulturell und zivilisatorisch definiert? An dieser Stelle kommt der Begriff der „russischen Zivilisation“ ins Spiel. Auf Deutschland übertragen entspräche das dem Idealbild all jener, die von Migranten erwarten, sich kulturell zu assimilieren: Türken und Polen und wer auch immer, alle die in Deutschland wohnen wollen, würden sich zur deutschen Sprache, Lebensweise und Kultur bekennen und – ohne ethnische Deutsche zu sein – „Deutschländer“ werden.

Das Wort von der „russischen Zivilisation“ beschäftigt die Intelligenz seit über eineinhalb Jahrhunderten. Es hat immer dann Konjunktur, wenn politische oder weltanschauliche Differenzen zwischen Rußland und dem Westen auftreten und wenn, ausgelöst durch innere und äußere Krisen, die russische Seele sich auf die Suche nach sich selbst begibt.

Zu dem Thema existieren dicke Bände. Ein wenig Ironie ist angebracht, doch es wäre falsch, den ganzen Komplex zu leugnen oder hinwegzudefinieren. Erleben wir doch aktuell, wie sich das russische Geistesleben und die russische Politik nach einer Phase intensiven Kopierens und Übernehmens aus dem Ausland (im Westen fälschlicherweise Modernisierung genannt) wieder den eigenen Wurzeln widmen.

Aus vielerlei Gründen, eingebildeten wie legitimen, herrschen über zwanzig Jahre nach dem Ende des Kommunismus und der sogenannten Aufnahme Rußlands in die internationale Gemeinschaft im ganzen Land Gefühle von Enttäuschung, Ausgrenzung und anhaltender Bedrohung. In der Person des Präsidenten kulminieren sie nur.

Putins Kommentare mit Blick auf den Untergang der UdSSR transportieren vor allem die Klage über die neue Verwundbarkeit seines Landes. Ganz objektiv ist die russische Westflanke heute so ungeschützt wie seit der beginnenden Neuzeit nicht mehr. Die Vorstellung eines Nato-Beitritts der Ukraine und Weißrußlands (den Rußland völkerrechtlich nicht verhindern könnte) schwört Erinnerungen an die furchtbarsten Zeiten der russischen Geschichte herauf: polnische und litauische Truppen vor Smolensk, deutsche Landser zwischen Charkiw und Kursk, vielleicht bald schwedische Grenadiere vor Narwa …

Jetzt rächt sich, daß im Schulunterricht zwischen Flensburg und Garmisch deutsche Geschichte seit vier Jahrzehnten erst mit 1933 beginnt. Für den Blick zurück zu den Kriegen gegen die Deutschordensritter, gegen die polnisch-litauische Rzeczpospolita und schließlich gegen Schweden vor 1721, den Rußland sich mit seinem Elefantengedächtnis leistet, fehlt unserem Politikernachwuchs die Sehschärfe. Schließlich wurde 1991 das „Ende der Geschichte“ eingeläutet. Seitdem reicht den meisten westlichen Politikern die Gewißheit, daß die Nato-Soldaten sowieso alle für die „Guten“ kämpfen. Diesseits der militärischen Szenarien bedeutete das Ende der UdSSR aber auch das Zerbrechen der russisch-slawischen Zivilisation: Rußland, Weißrußland, Ukraine. Gerade diese Zivilisation, ihr Schutz und ihre Stärkung, rückt unter dem Eindruck des geostrategischen und weltanschaulichen Vormarschs der westlichen Zivilisation in den Mittelpunkt.

Im universalistischen Westen, wo das eigene System als Speerspitze allen Fortschritts wahrgenommen wird, gibt es kaum Raum für die Vorstellung, daß Zivilisationen parallel und gleichzeitig existieren und die Menschheitsgeschichte keinen Gesetzen unterliegt.

Im universalistischen Westen, wo das eigene System als Speerspitze allen denkbaren Fortschritts wahrgenommen wird, gibt es kaum fruchtbaren Boden für die Vorstellung, daß Zivilisationen parallel und gleichzeitig existieren und die Menschheitsgeschichte keinen Gesetzen unterliegt. Die nichtwestlichen Gesellschaften suchen längst nach anderen Konzepten. Die schöne neue Regenbogenwelt, wie westliche Medien sie preisen, gilt in Rußland selbst eingefleischten Putin-Gegnern schon nicht mehr als Ideal der Zukunft. Die Kreml-Elite versucht sich derweil an der Tradition der Slawophilen.

Was sind die politisch relevanten Elemente dieser russischen Zivilisation laut Auslegung durch Putin & Co.? Zweifellos die Betonung der autoritären Vertikale bei gleichzeitiger Beachtung der Mehrheitsmeinungen und -wünsche. Im Selbstverständnis ihrer Anhänger besitzt die „Gelenkte Demokratie“ ohnehin mehr demokratischen Gehalt als das westliche Alternativmodell: Mehrheits- gegen Minderheitsdemokratie. So finden im politischen Prozeß die potentiell mehrheitsfähigen Vorhaben die meiste Unterstützung. Dagegen tritt der im Westen ausgeprägte Schutz der individuellen Selbstverwirklichung gegenüber kollektiven Interessen in den Hintergrund. Minderheiten werden in ihrem Existenzrecht geschützt, genießen jedoch nicht die Förderung und das Entfaltungsrecht wie im Westen. Überhaupt liegt der Schwerpunkt auf Einheit, wogegen Vielfalt eher als Schwäche und Gefahr empfunden wird.

Staatlicher sozialer Schutz und die Unterstützung Schwacher sind auf dem Papier recht weit, in der Wirklichkeit nur bedingt entwickelt. Ohne familiäre Unterstützung würde es den Alten und Benachteiligten in Rußland noch wesentlich schlechter ergehen – diese Praxis gilt den Anhängern der russischen Zivilisation im übrigen als Stärke gegenüber dem westlichen Konzept der rein staatlichen Hilfe. Für Russen, ob Stadt- oder Landbewohner, bleibt die Familie aus Vater, Mutter, Kindern und Großeltern der feste Bezugspunkt ihres Lebens. Alles andere, mit Ausnahme einiger sehr alter Freunde, gilt aus konkreter Erfahrung als unberechenbar und höchst unzuverlässig. Daran ändert auch die hohe Scheidungsrate nichts. Scheidungskinder bleiben üblicherweise bei ihren Müttern. Um so wichtiger ist die Rolle der Großmutter, der sprichwörtlichen Babuschka, bei der Erziehung der neuen Generation.

Der Lärm, der im Westen um die Rechte sexueller Minderheiten gemacht wird, gilt als Zeichen purer Dekadenz nach dem Prinzip „Wer sonst keine Sorgen hat“. In Rußland ist es viel einfacher: Sexuelle Minderheiten gibt es. Sollen sie machen, was sie wollen, solange sie niemanden stören. Und wen stört es, was der Nachbar hinter verschlossener Gardine treibt? In Rußland niemanden.

Für manche ist Rußland der Hort der bolschewistischen Internationale, die darauf aus ist, die europäischen Konservativen als fünfte Kolonne zu mißbrauchen, den Westen zu spalten und die Revolution endgültig bis ans Atlantikufer zu tragen: Kein Kommentar.

Diese grundpragmatische, grundkonservative Sicht auf die Dinge der Welt kennzeichnet alle Lebensbereiche. Um so verwunderlicher, daß manche auch im Westen, wenn das Gespräch auf Rußland kommt, dort immer noch den Quell revolutionärer Umtriebe vermuten. In Wahrheit ist Rußland heute, was es bis zur Revolution 1917 jahrhundertelang bereits war: eines der konservativsten Länder Europas.

Warum dann die hohe Zahl an Abtreibungen, wird häufig gefragt. Da handelt es sich in der Tat um ein Relikt aus den Jahrzehnten marxistischer Ideologie. Als erstes Land der Welt hatte die UdSSR 1920 Abtreibungen unter allen Bedingungen legalisiert. Auch wenn die Pro-Kopf-Zahlen seit den neunziger Jahren rückläufig sind, hält Rußland immer noch den Weltrekord. Inzwischen gibt es allerdings eine Diskussion zum Thema, deren Emotionalität die New York Times an amerikanische Verhältnisse erinnert.

Der vermeintlich suizidale demographische Trend ist dagegen ein Mythos aus den neunziger Jahren. Diese Entwicklung hatte 1999 ihren Höhepunkt erreicht und ist inzwischen gestoppt und umgekehrt. Laut der von der CIA herausgegebenen Statistiksammlung „The World Factbook“ liegt Rußland bei der Geburtenrate im Jahr 2014 knapp hinter den fünf skandinavischen Ländern und vor allen anderen in Europa – ausgenommen Liechtenstein, Luxemburg und Belgien. Addiert man den Saldo aus Abwanderung und Zuwanderung, so wächst die russische Bevölkerung bereits wieder seit 2010.

Die europäischen Konservativen haben schon im vergangenen Jahr begonnen, ihre Fühler nach Osten auszustrecken. Marine Le Pen war mehrfach in Moskau, russische Abgeordnete und Politiker sind regelmäßig Gäste bei Veranstaltungen der Lega Nord und anderer, rechtskonservative europäische Politiker waren als Wahlbeobachter im März auf der Krim.

Manche westlichen Beobachter verfolgen diese Annäherungen mit Unbehagen. Für sie ist und bleibt Rußland der Hort der bolschewistischen Internationale, vielleicht sogar gesteuert von einem geheimen Politbüro, das zur Abwechslung darauf aus ist, die europäischen Konservativen als fünfte Kolonne zu mißbrauchen, den Westen zu spalten, sich die Maske herunterzureißen und die Revolution endgültig bis ans Atlantikufer zu tragen. No comment. Es gibt Menschen, die glauben felsenfest daran, daß der Westen von den jüdischen Gründerfamilien der amerikanischen Zentralbank im Verein mit den Bilderbergern regiert wird. Wie gesagt: felsenfest.

Doch auch die rational zugänglichen Rußland-Skeptiker haben noch Pulver auf der Pfanne: Schon gut, sagen sie, aber wenn die Russen tief im Herzen keine verkappten Bolschewiken sind, warum veranstalten sie dann das Heldentheater um Stalin, warum gibt es keine anständige Vergangenheitsbewältigung wie bei uns auch?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Siebzig Jahre hat der Kommunismus in Rußland geherrscht, fast drei Generationen lang. Vierzig Jahre waren es in Mitteldeutschland, und zwölf Jahre lang regierten die Nationalsozialisten im Deutschen Reich. Zwölf Jahre werfen sich leichter weg als ein ganzes Leben; das ist ein Grund. Ein anderer, daß sicher die Mehrheit der Russen glaubt, Stalin sei es gewesen, dessen eiserne Faust sie zum Sieg über die Eroberer aus dem Westen getrieben hat. Es gibt seriöse Historiker, die das bezweifeln, doch ihre Meinung ist irrelevant. Es führt kein Weg daran vorbei: Der Georgier Stalin wird mit der Zeit ebenso zum nationalen Mythos der Russen werden wie der Korse Napoleon es für die Franzosen ist.

Spätestens dann steht der große Führer, wie er zu Lebzeiten genannt wurde, nicht mehr für die Ideologie von Marx, Engels oder Lenin, nicht für historischen oder dialektischen Materialismus, nicht für GULag oder Holodomor oder die Diktatur des Proletariats. Stalin wird dann das Symbol eines starken, wehrhaften Rußlands sein, mächtiger als alle Eroberer im Westen, Süden und Osten zusammen, mächtiger als Faulheit, Feigheit und ewige russische Lethargie. Der deutsche Rußlandexperte Alexander Rahr hat vor der Ukraine-Krise geraten, Putins Handeln durch die Beschäftigung mit Alexander Solschenizyn zu verstehen. Der große Dichter der antikommunistischen Emigration war Putin nach der Rückkehr aus Amerika bis zu seinem Tod 2008 ein enger Berater. Solschenizyns Ideal, so Rahr, sei die Umwandlung der starken kommunistischen Sowjetunion in einen starken russischen nationalen Staat gewesen. Rahrs Fazit: „Wladimir Putin glaubt, daß seine historische Mission in der Schaffung dieses Staates liegt.“

 

Thomas Fasbender, Jahrgang 1957, ist Philosoph und Kaufmann in Moskau. Journalistisch ist er seit 2011 für die JF tätig. Auf dem Forum meldete er sich zuletzt zum Thema Westbindung der Ukraine zu Wort („Historische Partnerschaft“, JF 4/14).

Foto: Präsident Putin schaut auf die Krone Peters des Großen: Rußlands Macht und Größe fest im Blick

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