© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Als Dutschke stolz war, ein Deutscher zu sein
Matthias Stangel geht der nationalen Unterströmung in der „Neuen Linken“ nach 1968 auf den Grund
Herbert Ammon

Nach so langem Abstand ist man über sich und seine eigenen Gedanken erstaunt. (...) Meine Interpreten knacken sich die Zähne an mir aus“, schrieb im Rückblick auf seine nationalrevolutionären Schriften gegen „Versailles“, gegen den Westen und gegen Hitler im Oktober 1966, sieben Monate vor seinem Tode, Ernst Niekisch an seinen Mitstreiter Joseph E. Drexel. Auf der Linken von Leuten wie Wolfgang Abendroth von Jugend an als „furchtloser Streiter gegen die Barbarei“ geschätzt, gehörte Niekisch seit 1962 als ordentliches Mitglied zur „Förderer-Gesellschaft“ des ein Jahr zuvor von der SPD verstoßenen SDS, kandidierte sogar für dessen Kuratorium.

In der Latenzphase der großen Protestbewegung, die nach dem 2. Juni 1967 mobilisierte, dem Tag, an dem bei der Anti-Schah-Demonstration in West-Berlin Benno Ohnesorg erschossen wurde, spielte Niekisch als Mentor der sich radikalisierenden Studenten eine heute kaum noch gewärtige Rolle. Zu dem aus Weimarer Zeit als „Nationalbolschewist“ bekannten Niekisch kamen nicht nur West-Berliner FU-Studenten wie Tilman Fichter, Bernd Rabehl, der – im anzuzeigenden Buch unerwähnte – Klaus Meschkat und andere.

Zu seinen Lesern zählte auch Rudi Dutschke, der allerdings Vorbehalte gegenüber Niekischs Sympathien für die „halb-asiatische Zaren-Maschine“ Rußland anmeldete. 1979, als in der Zeitschrift links eine Debatte über Niekischs nationalistische Kampfschriften einsetzte, verteidigte der Hannoveraner Politikwissenschaftler und frühere SDSler Jürgen Seifert (1928–2005) dessen Denken als den „Geist, der die ‘Rote Kapelle’ möglich machte“.

Der erste Teil des obigen Zitats könnte für manche jener Protagonisten der unter „1968“ kanonisierten Studentenrevolte sowie darüber hinaus der als Chiffre kaum noch geläufigen APO gelten. Gedächtnislücken kennzeichnen nicht wenige jener Generation, welche, im Bewußtsein moralischer und intellektueller Überlegenheit, sich als „kleine radikale Minderheit“ anschickte, die im Spätkapitalismus verwurzelte Entfremdung aufzuheben, den nationalen Befreiungskämpfen der Dritten Welt von den „Metropolen“ aus zum Sieg zu verhelfen und zugleich der diskreditierten Vätergeneration den Prozeß zu machen.

Antiamerikanisch gefärbter Ersatznationalismus

An ihre ideologische Verbohrtheit, an ihre Revolutionsphantasien und elitäre Militanz erinnern sich Leute wie Peter Schneider oder Götz Aly nur noch im Gestus der Selbstironie oder der Scham. Während im Umfeld der taz und der Grünen die nationalen, auf die deutsche Wiedervereinigung gerichteten Emotionen eines Rudi Dutschke als peinlich empfunden oder verdrängt werden, wollen einstige Aktivisten wie der „Renegat“ Bernd Rabehl in „1968“ nur noch den nationalrevolutionären Grundzug mit Rudi Dutschke als Exponenten erkennen. In Rabehls Trauerrede auf den Weihnachten 1979 gestorbenen Freund fehlte indes jeglicher Bezug auf das patriotische Vermächtnis des als Märtyrer der Revolte verehrten Dutschke.

Daß die Amerikanerin Gretchen Dutschke-Klotz mit den patriotischen Empfindungen ihres Mannes nichts anfangen konnte, ist seit ihrer mit Hilfe des SDS-Genossen Jürgen Miermeister verfaßten Dutschke-Biographie („Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“, 1996) bekannt. Noch 2001 wollte auch der posthum geborene Dutschke-Sohn Marek kategorisch ausschließen, daß sein Vater je Worte des Stolzes über Deutschland hätte äußern können.

Es trifft zu, daß der Dutschke der bewegten Jahre zwischen 1964 und 1968 gegenüber seinen SDS-Genossen sich mit Proklamationen zur deutschen Spaltung zurückhielt, selbst wenn er sich in Visionen einer rätedemokratischen „Freien Stadt West-Berlin“ und deren revolutionärer, gesamtdeutscher Strahlkraft erging. Der SDS, temporärer Kern der in die 1950er Jahre zurückreichenden APO, war zum einen gespalten in „Traditionalisten“, das heißt Parteigänger und Mitglieder der illegalen KPD, denen nichts weniger als die Überwindung der Mauer und die Revolutionierung der DDR am Herzen lag.

Als Aktivist der Bonner Gruppe, einer „Traditionalisten“-Hochburg, tat sich Hannes Heer, Jahrzehnte später Initiator der spektakulären ersten Wehrmachtsausstellung 1995, hervor. Im März 1968 forderte er den Ausschluß des zu den „Antiautoritären“ zählenden Rudi Dutschke. Aber auch die mit der „Neuen Linken“ weithin identifizierten „Antiautoritären“, hielten die „deutsche Frage“ durch die Mauer mehrheitlich für erledigt, frönten oft unausgesprochen im Vietnam-Protest einem antiamerikanisch eingefärbten Ersatznationalismus und suchten das Heil der Revolution in der Dritten Welt.

Erst über Maos Doktrinen gelangten in den siebziger Jahren maoistische Gruppen wie die KPD wieder zur Bejahung der „nationalen Frage“ – eine der vielen Paradoxien von 1968. Der als maoistisch firmierende KB Nord wurde zum Nährboden der nach der Wiedervereinigung pathologisch hervortretenden „Antideutschen“. Zu den Spätfolgen von 1968 zählt ferner die „linke Wut“ von Tante Antifa.

Dutschke, Fichter, Rabehl, Wolfgang Lefèvre und ein paar andere gehörten in den revolutionär erregten Jahren vor 1968 zu jenen Exponenten der Neuen Linken, die eine ältere „nationale“ Grundströmung in und außerhalb des SDS weitertrugen. Erkennbar wurde sie wieder in den Siebzigern, als Dutschke, anfangs noch unter Pseudonym, sein Leiden an Deutschland kundtat, die „Russifizierung“ und „Amerikanisierung“ beklagte und die Überwindung der deutschen Teilung als Aufgabe der „Sozialisten und Kommunisten“ proklamierte. 1972 notierte er in einem Buch: „Die Schwierigkeit ein Deutscher zu sein: (Warum ich aber dennoch stolz bin) Wie jedes Volk hat es das Recht, die Pflicht und das Bedürfnis, auf sein Land stolz zu sein, und mögen noch so viele Rückschläge gewesen sein.“

Dutschke scheute sich nicht, von „nationaler Identität“ zu sprechen, an Versailles und „Deutschland als tributpflichtige Nation“ zu erinnern und im Blick auf Vertreibung sowie „eine Kontinuität von Dresden bis Vietnam“ von „Kriegsverbrechen gegen das deutsche Volk“ zu schreiben, „ohne auch nur einen Augenblick die des deutschen Faschismus aus dem Auge zu verlieren“. Mit derlei Sätzen geriete Dutschke in der postnationalen Bundesrepublik des Jahres 2014 ins Visier der ideologischen Scharfschützen im „Kampf gegen Rechts“.

Es ist das Verdienst der Dissertation von Matthias Stangel, die verzweigten und verdeckten, den im Gefolge von 1968 sozialisierten Generationen mutmaßlich völlig unbekannten „nationalen“ Traditionslinien in der „Neuen Linken“ offengelegt zu haben. In sorgfältiger Archivarbeit entstanden, könnte das ungemein materialreiche Buch inmitten der ausufernden Literatur zu „1968“ zum Standardwerk werden, ungeachtet eines lückenhaften Namensregisters und des störenden Namensfehlers beim „Russell-Tribunal“ (1977/78). Als Defizit sind zudem fehlende Bezüge auf den „linken“ Strang der Jugendbewegung in der Nachkriegszeit sowie auf die für die Psychologie von 1968 und die Vorgeschichte der RAF erhellenden „deutschen“ Biographien von Bernward Vesper und Gudrun Ensslin anzumerken. Zuletzt: Im Vergleich zu den Werken Gerd Koenens über die Irrwege seiner 1968er-Generation bereitet das dickleibige, zuweilen wiederholsame Buch Anstrengung und alles andere als ein reines Lesevergnügen.

Matthias Stangel: Die Neue Linke und die nationale Frage. Deutschlandpolitische Konzeptionen und Tendenzen in der APO. Nomos Verlag, Baden-Baden 2013, broschiert, 638 Seiten, 99 Euro

Foto: Rudi Dutschke demonstriert anläßlich der Todesschüsse auf Benno Ohnesorg, Berlin-Dahlem 1967: Gesamtdeutsche Räteherrschaft

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