© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

Griff in die Tasche
Europäischer Gerichtshof: Sozialstaat und EU-Freizügigkeit vertragen sich nicht
Michael Paulwitz

Eine Milliarde Euro. Soviel werden die Kindergeldansprüche von Arbeitnehmern aus dem europäischen Ausland für ihre in der Heimat lebenden Sprößlinge den Steuerzahler bis zum Jahresende zusätzlich kosten – Folge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Sommer 2012. Bis zum Ende des Jahrzehnts wird nach Schätzungen des Bundesfinanzministeriums locker noch einmal eine Milliarde dazukommen.

Weil sich in den überforderten Amtsstuben die Anträge stapeln, hat Wolfgang Schäuble auch gleich schon mal 3,3 Millionen Euro für 90 neue Stellen lockergemacht. Geld, das einfach da zu sein hat, während die Haushaltspolitiker aller Parteien jederzeit Dutzende Ausreden parat haben, warum es für eine Rückerstattung der den Bürgern über die „kalte Progression“ bei der Einkommensteuer zu Unrecht abgepreßten Milliarden ganz gewiß und gerade jetzt aber auch wirklich „keine Spielräume“ gebe.

Es ist nicht das erste und sicher nicht das letzte EuGH-Urteil, das dem deutschen Souverän an allen demokratischen Instanzen vorbei und unter lustvoll-ohnmächtiger Kollaboration seiner politischen Eliten tief in die Tasche greift. Beides – Milliardenzahlungen und Stellenbedarf – dürfte sich noch potenzieren, wenn ein noch in diesem Jahr erwartetes Urteil arbeitslosen EU-Ausländern in Deutschland vollen Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen zusprechen sollte. Daß eine solche kaum verhohlene Einladung zu Sozialtourismus und Selbstbedienung geeignet ist, die deutschen sozialen Sicherungssysteme zu sprengen, interessiert die Luxemburger Richter als allerletzte.

„Stoppt den EuGH!“ hatte Altbundespräsident Roman Herzog schon 2008 so fachlich gut begründet wie politisch vergebens gerufen. Ob Arbeitsrecht oder Tabakwerbeverbot, Einmischung ins Strafprozeßrecht oder exzessive Zuerkennung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungsansprüchen – als Wiederholungstäter maßt sich der Luxemburger Gerichtshof Zuständigkeiten an, überdehnt EU-Prinzipien, erfindet „allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“, beugt oder verdreht selbst geltendes EU-Recht, um mit seinen Urteilen den Brüsseler Zentralismus zu stärken, das Subsidiaritätsprinzip auszuhebeln und die Kompetenzen der Mitgliedstaaten selbst im Kernbereich nationaler Zuständigkeiten auszuhöhlen und ihre demokratisch legitimierten Gesetzgeber regelrecht vorzuführen.

Zum Vorgeführtwerden gehört allerdings immer auch einer, der sich vorführen läßt. Während man in südlicheren Gefilden unerwünschte Vorgaben, vom Kruzifixverbot an Schulen bis zum Euro-Stabilitätspakt, einfach ignoriert, während man in Großbritannien im Zweifelsfall nationale Eigeninteressen über abstrakte EU-Glaubenssätze stellt, Ausnahmen und Sonderregelungen heraushandelt und wenn nötig auch die Konfrontation mit Brüssel nicht scheut, organisiert man in Deutschland auch die verordnete Selbstabschaffung der eigenen Sozialsysteme noch mit teutonischer Gründlichkeit: Die Kindergeldanträge für – real oder auf dem Papier – zu Hause lebende Kinder konnten polnische und tschechische Wanderarbeiter schon kurz nach dem fatalen Urteil zur Erleichterung auch auf Formularen in ihrer Muttersprache stellen (siehe Seite 7).

Die mit einer Flut von schwer überprüfbaren Anträgen und ungeduldigen Forderungen überschwemmten Sachbearbeiter der Familienkasse baden aus, was die Politik ihnen eingebrockt hat. Wer die eigene Wiederwahl in spätestens fünf Jahren fester im Blick hat als das Wohl des Gemeinwesens, auf das er vereidigt ist, schert sich naturgemäß recht wenig um die Folgen der Verträge und Abkommen, die er so unterzeichnet.

Fehlender Sachverstand in den zunehmend durchpolitisierten und mit Parteisoldaten durchsetzten Beamtenapparaten tut ein übriges: Mancher durchschaut wohl tatsächlich nicht, daß ein nationales Sozialsystem und das hohe Prinzip der Personen- und Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU sich nicht vertragen. Wo alle Grenzen eingeebnet werden sollen, wird ein hohes Sozialleistungsniveau zwangsläufig zum Magneten für Einwanderung in die Sozialsysteme, die das höchste Niveau bieten.

Die logische Konsequenz – daß „mehr Europa“ im Sinne von immer engerer Integration nun mal weniger Deutschland und weniger Sozialstaat bedeutet – traut sich freilich keiner auszusprechen. Könnte ja Wählerstimmen kosten. Lieber wurstelt man in den europäischen Hinterzimmern vor sich hin und tut dann überrascht, wenn der Haken ans Tageslicht kommt. Dann profilieren sich die einen mit wohlklingenden, aber wirkungslosen Maßnahmen wie Wiedereinreisesperren bei Sozialleistungsmißbrauch, die in einem Europa ohne nationale Grenzkontrollen kaum durchführbar sind. Anderen ist es sogar ganz recht, wenn der deutsche Sozialstaat zur Ausplünderung freigegeben wird. Den Grünen als Klientelpartei der öffentlich Bediensteten und der Sozialindustrie fällt jedenfalls nichts Besseres ein, als prophylaktisch die weitere Aufblähung der Sozialapparate zu fordern.

Daß das den Zusammenbruch der ohnehin überdehnten und großenteils auf Pump finanzierten sozialen Sicherungssysteme noch beschleunigen würde, liegt auf der Hand. Deutschland steht vor der Wahl: Entweder nationale Kompetenzen verteidigen und zurückfordern und die Grenzen der Solidargemeinschaft selbst definieren – oder sich von gleichmacherischen Eurokraten in eine gemeinsame europäische Sozialpolitik nötigen lassen und über erzwungene Niveauangleichungen nach unten zum Direktfinanzier einer europaweiten Umverteilung über die Sozialkassen werden.

Diese Debatte muß jetzt geführt werden – und nicht erst wenn das nächste milliardenteure EuGH-Urteil ins Haus flattert.

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