© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

„Das ist die Hölle, von der ich rede“
Er gilt als „der Honoré de Balzac Spaniens“, der Romancier Rafael Chirbes. In seinem hochgelobten neuen Roman „Am Ufer“ widmet er sich der spanischen Krise – und öffnet nach Meinung der Kritiker den Blick in einen europäischen Abgrund.
Moritz Schwarz / Nadia Melendez-Soto

Herr Chirbes, seit Erscheinen Ihres neuen Romans gelten Sie als Spaniens Chronist des Untergangs.

Chirbes: Nun, ich weiß nicht, ob das wirklich so ist.

Die großen spanischen Zeitungen haben „Am Ufer“ in seltener Einmütigkeit zum Buch des Jahres gewählt. „El Pais“ titelte: „Der beste spanische Roman zur Krise!“

Chirbes: Viele Journalisten kommen und sagen mir: „In Ihrem Roman geht es um die Krise.“ Ich sage, nein, es geht um die Aktualität! Es geht um die Menschen, darum, daß sie (...) daß jede Epoche liebt, Wünsche hat, Sehnsüchte, Ambitionen. (...) Aber gut, ich stimme zu: Das, was wir erleben, ist eine Etappe des Untergangs. Allerdings möchte ich nicht so verstanden werden, daß ich nur Hoffnungslosigkeit verbreiten will.

Das scheint Ihnen gründlich mißlungen zu sein. Die „Welt“ nennt Ihr Buch eine „barocke Bußpredigt“, ein „grimmiges Klagelied“ und einen „Totentanz der Moderne“, die „FAZ“ „erbarmungslos“ und der „Spiegel“ ein „dunkles“, „monströses Werk“. Ihr Schriftstellerkollege Luis Garcia Matero bescheinigt Ihnen gar einen „totalitären Nihilismus“.

Chirbes: Ach wissen Sie, so viele haben sich bei mir schon beklagt: „Alle Figuren Ihres Buches sind negativ, Sie haben ja keine Hoffnung!“ Ich meine, das ist nicht wahr. Es sind nicht per se negative Charaktere, es sind vielmehr Charaktere unserer Zeit. Verstehen Sie? Menschen mit den Wertvorstellungen unserer Zeit: Niemand tut irgend etwas, es sei denn für Geld, niemand bewegt sich, es sei denn, er hat etwas davon. Wenn dieser Mann seine Schreinerei für immer schließt, ist er kein Bösewicht, er ist ein armer Mann, in die Ecke gedrängt, ein Feigling, der sein ganzes Leben zu Hause verbracht hat, weil er zu nichts den Mut hatte, und gibt anderen dafür die Schuld.

Konkret geht es in Ihrem Roman um den Schreiner Esteban, der sich als junger Mann ein anderes Leben erträumte und der, wie die meisten – doch im Gegensatz zum genügsamen Vater – den Boom vor der spanischen Krise nutzen wollte, um sein Stück vom Immobilienkuchen abzubekommen. Am Ende verliert er alles, reißt gar den Familienbetrieb in den Abgrund, kann nicht mal mehr die Pflegerin des Vaters bezahlen. Ohne Perspektive tötet er ihn und sich selbst. Und das ist nicht hoffnungslos?

Chirbes: Hoffnungslos wäre, wenn ich sagte, dies ist die beste aller möglichen Welten. Aber das sage ich nicht, ich sage, dies ist die schlechteste aller möglichen Welten.

Sie sprechen von einer „Art Hölle“.

Chirbes: Hölle, das habe ich symbolisch gemeint. Ich glaube, der Ehrgeiz unserer Zeit, das ist unsere „Hölle“. Viele haben gedacht: Jetzt ein Haus oder eine Wohnung! Europa wird zu uns kommen, also ist das bombensicher!

Heute gibt es über eine Million Bauruinen in Spanien. An den Küsten stehen regelrechte Wohnfriedhöfe.

Chirbes: Friedhöfe sehe ich nicht, eher hat die Gegend etwas von einem Schlachtfeld, einem Kriegsgebiet.

Das deutsche Fernsehen sagt über Ihr Buch: „Bei Chirbes ist niemand ohne Schuld: die Jungen nicht, weil verführt vom schnellen Geld, die Alten nicht, weil sie erst Franco, dann Europa blind gefolgt sind.“

Chirbes: Diese Generation hat mehr als jede andere ihre Kinder auf dem Gewissen. Der Vater fuhr noch ein dickes Auto, beim Sohn reicht es nicht mal mehr für ein Mofa. Dabei war klar, daß das Geld falsches Geld war. Die Menschen, die vorher noch Ziele hatten, haben über ihre Verhältnisse gelebt. Jetzt frißt Saturn seine Kinder. Allerdings denke ich nicht, daß nur Spanien so ist. Mancher Ihrer Kollegen möchte jetzt Spanien hervorheben – aber das finden wir überall in Europa. Schauen wir etwa in die Ukraine – bevor dort diese bewaffneten Kämpfe entbrannt sind – wie die Hyänen versucht haben, Beute zu machen, wie zuvor in Spanien.

Inwiefern?

Chirbes: Na ja, sie haben entdeckt, daß die Ukraine viele Schulden hat, daß man ihr schnell große Kredite bieten muß, um sie zu fangen, sie die nächsten 25 Jahre an sich zu binden, und dabei diese Unverfrorenheit, mit Rußland zu ringen, um zu sehen, wer den Kuchen kriegt.

Der „Spiegel“ zitiert Sie mit den Worten: „Europa hat uns Spanier korrumpiert“, begonnen habe es nach Franco, als die Europäer mit ihrem Geld dafür sorgten, daß aus Faschisten und Kommunisten plötzlich Christ- und Sozialdemokraten wurden und man das Land in die Nato einkaufte.

Chirbes: Nun, die Wahrheit ist, daß man uns diesen Virus eingeimpft hat. Man hat den Leuten gesagt: „Spanien ist das Land, in dem man mehr Geld in kürzerer Zeit verdienen kann.“ Es begann der populäre Kapitalismus à la Margaret Thatcher, und alle, aber wirklich alle, begannen, Aktien zu kaufen. Als aber erst einmal auch die Armen ihre letzten Kröten in Aktien gesteckt hatten, stürzten die Kurse ab. Die Wahrheit ist, man hat sie abgezockt. Zu Hause kannst du dein Geld nicht aufbewahren, und auf der Bank geben sie dir nichts dafür.

Was Ihr Buch so erfolgreich macht, so eine spanische Zeitung, sei die Kunst, die abstrakte Finanzkrise als Krise der Menschen zu beschreiben.

Chirbes: Mag sein. Was die Leute empfinden ist: Angst, Angst, Angst! Angst, weil die Gehälter in Spanien nicht aufhören zu sinken. Schon Marx wußte: Je mehr Arbeitslose es gibt, um so geringer das Gehalt. Allerdings ist das in Deutschland nicht anders. In Deutschland gibt es Stellen, wo man pro Stunde fast nichts verdient. Die Sowjetunion ist verschwunden und die Sozialdemokratie interessiert den Kapitalismus nicht mehr, so daß er mit aller Kompromißlosigkeit anstellen kann, was auch immer er will. Sektor für Sekor und Individuum für Individuum wurden isoliert, und die sozialen Probleme wurden zu psychologischen Problemen. All dies führt zu einer Gesellschaft mit viel mehr Angst und viel weniger Hoffnung, und mit der Gewißheit, daß es den Kindern schlechter gehen wird als den Eltern.

Aber so depressiv, wie Sie es darstellen, wirken unsere Gesellschaften doch nicht, auch nicht in Spanien.

Chirbes: Spanien ist in der Tat ein seltsames Land, wie alle anderen Mittelmeerländer auch. Heute war ich etwa in Valencia, und die Leute machten Krach mit Böllern, sie waren auf der Straße, und es war viel Freude in der Stadt. So wie es eben die Länder der Sonne so an sich haben. Gestern gab es einige deutsche Unternehmer, die technisches Personal suchten und 15 bis 20 Stellen vergaben, mit einem Verdienst zwischen 1.200 und 1.600 Euro. Hättest du einem Spanier vor fünf Jahren gesagt, daß er auswandert, um 1.500 Euro zu verdienen, hätte er sich totgelacht! Denn 17jährige Jungs auf dem Bau verdienten damals 3.000 Euro pro Monat! Damals hatten die Leute Geld. Und dann hieß es, auch nach den Erfahrungen mit den Börsenstürzen, das einzige, was in Spanien Wert hat, dessen Wert noch nie gefallen ist, sind Wohnungen. Also was machten die Leute, um ein bißchen für das Alter vorzusorgen? Die Leute hatten gespart, hatten 20.000 oder 40.000 Euro, liehen sich 60.000 weitere Euro von der Bank, um eine kleine Wohnung zu kaufen. Von allen Seiten wurden sie dazu animiert. Ich habe selbst erlebt, wie sogar kolumbianische Immigranten sofort einen Immobilienkredit bekamen und man ihnen auch noch sagte: „Nimm doch obendrein noch etwas mehr für ein Auto, einen Geländewagen vielleicht, um ihn deinem Sohn zu schenken oder wofür auch immer!“ Alle diese Leute haben sich barbarisch verschuldet. Und dann platzte die Blase und die Banken wollten ihren Teil, denn die Banken verlieren nie. Die Leute verloren nicht nur ihre Wohnungen, sondern sie sind überdies fertig für die Ewigkeit. Denn auch wenn du schon alles verloren hast, du zahlst weiter und du kannst kein Auto und nichts mehr besitzen, das ist die Hölle, von der ich rede.

Welche Verantwortung trägt Europa dafür?

Chirbes: In Spanien waren Kredite sehr leicht zu bekommen, dahinter aber stecken die, die in Wahrheit das Geld geliehen haben, die europäischen Banken, hauptsächlich die deutschen. Dann kam der Moment, in dem sie sagten: Jetzt muß zurückgezahlt werden! Und plötzlich haben die Banken das Geld für null Prozent bekommen, und nun stieg es auf fünf Prozent. Das ist auch eine der Unglaublichkeiten dieser Zeit, daß die Banken bei der Europäischen Zentralbank Geld holen und es an die Staaten verkaufen – sie kaufen es für null Prozent und verkaufen es für fünf Prozent, das ist absoluter und perfekter Raub.

Noch mal der „Spiegel“ über Sie: Natürlich hätten spanische Politiker, Baulöwen und Spekulaten den Zusammenbruch der spanischen Wirtschaft und Euro-Krise mitverschuldet, so Chirbes. Aber es sei auch das Ergebnis von drei Jahrzehnten europäischer Politik.

Chirbes: Ja, aber ich möchte klarstellen, daß ich kein Antieuropäer bin, ich glaube, Europa ist eine phantastische Idee.

Nicht für alle, wie Sie in Ihrem Buch doch selbst beschreiben.

Chirbes: Europa kommt in meinem Buch gar nicht vor.

Aber die Auswirkungen der Krise, die der Euro doch maßgeblich mit verursacht hat.

Chirbes: Das ist mir jetzt zu politisch, dazu möchte ich nichts sagen.

Ist „Europa“ Ihnen eine heilige Kuh?

Chirbes: Warum?

Als es um den Kapitalismus ging, konnte es Ihnen augenscheinlich gar nicht politisch genug sein.

Chirbes: Unsinn, ich bin nur kein Antieuropäer, sondern glaube an die wunderbare Idee der Internationalität, die Europa verkörpert. Ich glaube, es ist ein großer Vorteil, frei durch Europa reisen zu können.

Das ist die Sonnenseite – aber was glauben Sie, warum haben die deutschen Banken den Spaniern so bereitwillig Geld geliehen? Weil sie darauf bauten, daß mit dem Euro hinter Spanien die Euro-Länder und die EZB steht. Das hat den Boom weiter angeheizt, das können Sie doch nicht ausblenden.

Chirbes: Das tue ich auch nicht, aber das sind Dinge, die nichts mit meinem Buch zu tun haben.

Meinen Sie wirklich?

Chirbes: Ja, und deshalb beantworte ich keine weiteren Fragen dazu. Wobei ich nicht behaupte, der Euro sei nur positiv. Es stimmt, daß er auch eine Falle war, etwa kostete ein Kaffee zuvor achtzig oder neunzig Peseten, dann plötzlich einen Euro – und ein Euro waren 170 Peseten. Plötzlich war alles teurer. Ich sehe das an mir selbst, ich lebe unendlich ärmer als vor sieben oder acht Jahren.

Und das ist Ihre ganze Euro-Kritik?

Chirbes: Sie versuchen es schon wieder – keine weiteren politischen Fragen!

 

Rafael Chirbes, als einen der „großen europäischen Stilisten“ lobt ihn die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung erhebt ihn gar zum „Vertreter eines neuen Realismus“. Sein neuer Roman „Am Ufer“ stößt bei den Kritikern fast einhellig auf Begeisterung. Die lobenden Adjektive überschlagen sich: „atemberaubend“ (NZZ), „grandios“ (FAZ), „wuchtig“ (Spiegel). „Am Ufer“ sei eine „elektrisierende Abrechnung mit den Ideologien des 20. Jahrhunderts, die im 21. Jahrhundert keine Gestaltungskraft mehr entfalten, von starkem Bewußtsein für die Krise, deren Sprengkraft und den drohenden Zerfall ... ein Wirtschaftskrimi und eine Familiengeschichte, sarkastisch und voller Humor“ (ARD). 1949 bei Valencia geboren, studiert Rafael Chirbes Geschichte und Sprachen und wird Journalist, bevor er ab 1988 eine Reihe zum Teil auch in Deutschland hochgelobter Romane vorlegt, wie „Die schöne Schrift“ (1992), „Der lange Marsch“ (1996), „Der Fall von Madrid“ (2000) oder „Krematorium“ (2007).

Foto: Spanische Bauruine: „Kredite waren für die Leute leicht zu bekommen – dahinter aber steckten die, die in Wahrheit das Geld geliehen haben, die europäischen Banken, vor allem die deutschen.“

 

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