© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

„Wir denken nicht darüber nach“
Kindergeld: Überforderte Mitarbeiter, wartende Polen und wütende Arbeitgeber bei der Familienkasse Bautzen
Billy Six / Ronald Gläser

Günter Rossow läßt sich nichts vormachen. Der Manager der Firma ODS aus Krauschwitz (Ostsachsen) verliert auch nicht so schnell die Fassung. Heute schon. „Wenn ich anrufe, komme ich in die Warteschleife. Und wenn ich durchkomme, werde ich verschaukelt.“ Rossow regt sich darüber auf, daß zwanzig polnische Mitarbeiter in seiner Gießerei ihr Kindergeld immer noch nicht bekommen haben.

Also ist er in das Büro der Familienkasse in Bautzen gestürmt, wo ihn nun vier genervte Mitarbeiterinnen gleichzeitig besänftigen. „Sie haben doch in der Presse gelesen, was wir für Probleme haben“, sagt die Teamleiterin Frau B. Nein, Herr Rossow hat kein Verständnis. Seine Männer haben seit einem Jahr nichts von der zuständigen Familienkasse beim Arbeitsamt Bautzen gehört. „Noch nicht mal ein Zwischenbescheid“, klagt er.

Seine Arbeiter verdienen im Schnitt 1.400 Euro brutto, ein Vorarbeiter schon mal 1.800. Und sie bezahlen ihre Steuern, betont Rossow. Es sind Männer wie Grzegorz Kukacz, der seit Monaten auf das Geld für seinen Sohn wartet. Für sie alle ist das Kindergeld ein willkomenes Zubrot. Arbeitgeber wie Rossow wissen das und weisen ihre Mitarbeiter darauf hin.

Sozialleistungen für im Ausland lebende Kinder. Das Thema regt viele Deutsche auf. Sie zahlen schon für Zockerbanken, Pleitestaaten und jetzt auch für Kinder, die gar nicht in Deutschland leben. Die es vielleicht gar nicht gibt? Tatsache ist, daß die Familienkasse jeden Antrag sorgfältig prüft und deutlich mehr Beweise als von deutschen Anstragstellern verlangt. Darunter sämtliche Steuerdaten und ein gänzlich neues amtliches Dokument: die sogenannte Freizügigkeitsbescheinigung der Heimatbehörde. Viele Polen und Tschechen haben Schwierigkeiten, alles zusammenzubekommen. Daher dauern die Anträge auch so lange. Deshalb, und wegen der Antragsflut.

Eine Abteilungsleiterin verrät der JF: „Wir haben an die 60.000 Fälle extra abzuarbeiten. Jeden Tag erreichen uns an die 1.500 Briefe.“ Zur Zeit sind über 20 Sachbearbeiter in Bautzen nur mit den Fällen aus Polen und der Tschechei betraut. 90 weitere sollen bundesweit eingestellt werden, um den Antragsstau aufzulösen.

Deutsche Muttis hier, polnische und tschechische da

Viele Medien stellen das Thema so dar, als ginge es um Saisonkräfte wie Spargelstecher, aber das ist falsch. Erntehelfer bekommen Kindergeld bereits seit dem EU-Beitritt der entsprechenden Länder.

Neu ist, daß auch Personen, die für eine ausländische Firma arbeiten, das Kindergeld erhalten. Das Ganze ist kompliziert und firmiert unter dem Titel „überstaatliches Recht“. Die Familienkasse in Bautzen hat zwei Besprechungszimmer. Das eine ist für deutsche Eltern, das andere für jenes „überstaatliche Recht“. In diesem Raum sitzt Frau Müller* und ärgert sich über die Mehrarbeit. „Wir müssen uns nicht darüber aufregen, da gibt es noch ganz andere Sachen“, sagt sie, wie um sich selbst zu beruhigen. Sie berichtet von Briefen, in denen die Beamten als Nazis beschimpft werden, weil sie das Geld nicht schnell genug freigeben. Frau Müller runzelt die Stirn angesichts der Zahlungen ans Ausland, exkutiert aber die EU-Vorgaben: „Wir brauchen da nicht drüber nachdenken und reden, wir setzen das nur um.“

Während Frau Müller einen Antragsteller berät, versammeln sich im Warteraum mehrere Polinnen. Sie haben alle das gleiche Anliegen: Ansprüche von Landsleuten gegen die deutsche Bürokratie durchsetzen. Eine von ihnen ist Monika Kowalicka-Rakowski. Die blonde Steuerfachangestellte kommt aus Frankfurt am Main und hat sechs Anträge in einem Leitz-Ordner dabei. Ihre Mandanten: Bauarbeiter oder Fleischer, die als Leiharbeiter eine Zeitlang in Deutschland gearbeitet haben. „Manche von denen warten seit zwei bis drei Jahren“, sagt sie.

Neben ihr sitzt eine weitere Polin, die im Auftrag einer polnischen Agentur für zwanzig Polen gleichzeitig das Kindergeld beantragen will. Beide Frauen beteuern, daß sie kein Geld für ihre Arbeit erhalten. Allerdings berichten andere Antragsteller von haarsträubenden Tarifen für speziele Berater, die Polen durch den deutschen Behördendschungel helfen: 1.000 Euro pro erfolgreich durchgebrachtem Kindergeldantrag sollen sie verlangen. Oder bis zu fünf Prozent Provision pro Monat.

Die Behördenmitarbeiter wollen diese Berater nicht bemerkt haben, die den Antragstellern Visitenkarten in die Hand drücken. Dafür hat Herr Rossow davon Wind bekommen. „Ich bin heute das erste Mal hier und weiß, daß da draußen Akquise betrieben wird. Und Sie sitzen den ganzen Tag hier und wissen das nicht“, faucht er. Dafür sichern die Damen vom Amt Rossow zu, daß sie die Anträge nun schneller bearbeiten. „Sie sind ja nicht der einzige, der herkommt und schimpft – wir haben fast täglich Besuch“, klagt die Teamleiterin. „Ich möchte nur, daß meine Männer das kriegen, was ihnen zusteht“, antwortet er und verabschiedet sich.

 

Debatte um deutsche Sozialleistungen für Ausländer

2012 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, daß ausländische Arbeitnehmer, die mehr als die Hälfte des Jahres in Deutschland arbeiten, auch dann Kindergeld erhalten, wenn die Kinder nicht in Deutschland leben. Dieser Fall des Polen Waldemar Hudzinski wirkt sich jetzt dramatisch auf die Lage in deutschen Behörden und die öffentlichen Haushalte aus: Das Urteil hat sich wie ein Lauffeuer in Osteuropa herumgesprochen und eine Antragsflut ausgelöst (JF 20/14). Schätzungen zufolge muß Deutschland jährlich etwa 200 Millionen Euro zusätzlich (bzw. insgesamt etwa eine Milliarde Euro rückwirkend bis 2008) auszahlen. Vor allem bei Polen, Tschechen und Slowaken ist die Quote der Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, bei über einem Viertel (siehe Grafik). Allein für 41.000 polnische Kinder in Polen wird derzeit Kindergeld ausgezahlt. Etwas anders gelagert ist der Fall von Rumänen und Bulgaren: Sie melden sich in Deutschland als Kleingewerbetreibende, nur um Leistungen wie Kindergeld kassieren zu können. Diese als Sozialtourismus bezeichnete Armutseinwanderung wird zum Wahlkampfthema. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Mayer (CSU), kritisierte das „Problem der Armutsmigration“ gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme müssen verringert werden.“ CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sagte, er wolle die Zahlungen ganz stoppen: „Der Kindergeldtransfer ins Ausland muß eine Ende haben.“

Foto: Familienkasse Bautzen: Sachbearbeiterin Müller mit Antragsteller (links) und Grzegorz Kukacz, der auf Kindergeld für seinen Sohn Filip in Polen wartet. Offizielles Antragsformular der Arbeitsagentur in polnischer Sprache

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