© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/14 / 23. Mai 2014
Was wählen wir da eigentlich? Sonntag ist Wahltag – und wer geht hin? Nicht einmal die Hälfte aller Wahlberechtigten – gut 43 Prozent in Deutschland, was fast genau dem EU-Durchschnitt entspricht – zog es 2009 an die Urnen. Nun aber soll alles besser werden, demokratischer. Denn, so wird geworben, das Europäische Parlament hat mittlerweile mehr Kompetenzen, was ohne Zweifel zutrifft. Und mit den erstmals europaweit aufgestellten Spitzenkandidaten der „großen“ Parteifamilien soll die Wahl personalisiert werden. Es scheint, die Wähler hätten eine echte Alternative und könnten maßgeblich mitentscheiden, wer künftig Kommissionspräsident und damit faktisch Chef einer europäischen Exekutive werden soll. Tatsächlich entspricht das Europäische Parlament nur in Ansätzen einem regulären Parlament (siehe die Grafiken links und unten). Darauf hat im Februar noch einmal das Bundesverfassungsgericht hingewiesen, als es die Sperrklausel für die Europawahl verwarf. In Brüssel (beziehungsweise Straßburg) wird keine Regierung gewählt. Die Abgeordneten wirken an der Gesetzgebung der EU mit, haben allerdings kein Recht, von sich aus Gesetzesinitiativen einzubringen. Sie haben ein Mitspracherecht, dürfen Änderungsvorschläge machen und können seit dem Vertrag von Lissabon (2009) – nicht in allen Belangen – ein Gesetzesvorhaben der Kommission und des Rates komplett ablehnen. Die wesentlichen Initiativ- und Entscheidungsrechte allerdings bleiben dort, wo sie schon immer waren: bei der EU-Kommission und beim Rat. Damit ist die Exekutive der Mitgliedsstaaten die Legislative auf EU-Ebene. Und was hat es mit den Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten auf sich? Zwar wählt ihn das Europäische Parlament – auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs. Die wiederum müssen laut Lissabon-Vertrag den Ausgang der Wahl am Sonntag „berücksichtigen“; was immer das heißen mag. Möglich also, daß jemand ganz anderes als (Kompromiß-)Kandidat vorgeschlagen wird. Vor allem aber sind die wesentlichen Gremien und Instrumente, die während der noch nicht bewältigten Euro- und Finanzkrise zum Tragen kamen, dem Einfluß der Brüsseler Parlamentsmitglieder entzogen: Gegenüber dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beispielsweise hat das Europäische Parlament keinerlei Informations- oder Kontrollrechte – ebensowenig wie die Parlamente der Mitgliedsstaaten.
Mitwirkung des Europäischen Parlaments Europäischer Rat Staats- oder Regierungs-chefs der Mitgliedsstaaten
Ministerrat (Rat der Europäischen Union) Fachminister der Regierungen der Mitgliedsstaaten Wichtigstes Entscheidungsorgan auf EU-Ebene
Europäische Kommission Ein Mitglied (Kommissar) aus jedem EU-Staat Exekutive der Europäischen Union
Europäisches Parlament künftig 751 Abgeordnete, davon ein Präsident (ohne Stimmrecht)
Europäischer Gerichtshof
Bürger der EU Die Wahl findet nach dem jeweiligen nationalen Wahlrecht statt
Zum Vergleich: Parlamentarische Demokratie Regierungschef und Minister
Parlament Mehrheit–Opposition
Oberstes Gericht
Zusammensetzung nach Mitgliedsstaaten Europaparlament gesamt: 751 Abgeordnete aus 28 EU-Ländern Deutschland 96 Frankreich 74 Großbritannien 73 Italien 73 Spanien 54 Polen 51 Rumänien 32 Niederlande 26 Griechenland 21 Belgien 21 Portugal 21 Tschechien 21 Ungarn 21 Schweden 20 Österreich 18 Bulgarien 17 Dänemark, Slowakei, Finnland je 13 Litauen, Kroatien, Irland je 11 Slowenien, Lettland je 8 Estland, Luxemburg, Malta, Zypern je 5
Zusammensetzung nach Fraktionen EVP – Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) 274 CDU/CSU 42 Sitze
S&D – Progressive Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament 196 SPD 23 Sitze
ALDE – Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa 83 FDP 12 Sitze
Grüne/EFA – Die Grünen/Europäische Freie Allianz 57 Grüne 14 Sitze
ECR – Europäische Konservative und Reformisten 57
GUE-NGL – Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke 35 Linke 8 Sitze
EFD – Europa der Freiheit und der Demokratie 31
Fraktionslose 33
Stimmgewichtung im Europäischen Parlament So viele Bürger kommen auf einen Abgeordneten des Landes im Europäischen Parlament (Beispiele) Deutschland 852.083 Bürger Irland 371.333 Bürger Malta 68.833 Bürger
Teurer Spaß Insgesamt 1.053 Bewerber kandidieren hierzulande für die 96 Sitze, die Abgeordneten aus Deutschland im Europaparlament zustehen (siehe mittlere Grafik links). Jeder deutsche Mandatsträger in Brüssel vertritt über 850.000 Bundesbürger. In anderen, bevölkerungsärmeren Mitgliedsstaaten ist das Zahlenverhältnis von Bürgern pro Abgeordnetem wesentlich günstiger (siehe Grafik links). Im Fachjargon spricht man von degressiver Proportionalität. Bei Wahlen zum Bundestag wird dem entgegengewirkt, indem man die Größe der Wahlkreise der Bevölkerungszahl anpaßt. Dies ist für das Europaparlament allerdings nicht möglich, da strenggenommen die Wahl nicht europäisch, sondern national organisiert ist. Schließlich können deutsche Wähler auch nur deutsche Parteien wählen. Die europäischen Parteien (siehe mittlere Grafik rechts) haben demnach auch keine „richtigen“ Mitglieder, sondern sind Zusammenschlüsse beziehungsweise Bünde einzelner nationaler Parteien. Europäisch vereinheitlicht wurden unterdessen die Bezüge der Europaabgeordneten, von denen (seit 2009) jeder 8.021 Euro im Monat bekommt. Zuvor wurde das Gehalt von den Mitgliedstaaten gezahlt und entsprach den Diäten von Abgeordneten der jeweiligen nationalen Parlamente. Das war – wie der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim kritisiert – auch sinnvoll: Denn das Gehalt sei für die Verwendung im Heimatland bestimmt, für die Arbeit in Brüssel gebe es zusätzliche Kostenpauschalen. |