© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Zeugnisse des Überlebens
Beitz, Schindler und zwei Schwestern
Rolf Stolz

Die letzten verfolgten Juden und diejenigen, die ihnen damals halfen, sterben. Um so mehr muß unser Gedenken sich auf Zeugnisse aus erster Hand stützen und auf jene, die die Überlebenden angehört haben. Der emeritierte Freiburger Philosophieprofessor Reinhard Hesse, ein bedeutender Ethiker, war über Jahrzehnte mit den Schwestern Hilde Berger-Olsen (1914–2011) und Rose B. Reetz (1918–2005) befreundet.

In Gesprächen, Dokumenten und Erinnerungen läßt er ihre Lebensgeschichte sowie die ihrer ermordeten Angehörigen und ihrer politisch aktiven Ehemänner sichtbar werden. Hilde Berger-Olsen arbeitete als Sekretärin von Berthold Beitz und später für Oskar Schindler. Sie war zuständig für jene Liste, dank welcher 1.200 Juden zum Teil sogar die Zwischenstation Auschwitz überlebten.

Der vergangenes Jahr mit 99 Jahren verstorbene Industrielle Berthold Beitz schrieb in dem persönlich gehaltenen Vorwort kurz vor seinem Tode: „Hilde Berger und ich waren noch in unseren 20ern, als wir in Boryslaw die wahrscheinlich dramatischste, prägendste und schwierigste Zeit unseres Lebens durchmachten. Sie als jüdische Gefangene – auch als meine zweite Sekretärin immer vom Tode bedroht. Ich als jugendlicher Chef der kriegswichtigen ‘Karpaten-Ölgesellschaft’ mit Tausenden von Beschäftigten – immer gezwungen, mit den damaligen Machthabern zurechtzukommen.“

Zu den Themen des Buches gehören der Konflikt zwischen orthodoxem Judentum und Zionismus, die politische Radikalisierung am Anfang der dreißiger Jahre, die Stalin-Trotzki-Kontroverse, der Widerstand gegen den NS-Terror, der Antisemitismus in Deutschland und Polen, der Neubeginn im amerikanischen Exil. Zahlreiche Einzelheiten wie die Ladenplünderungen der Jungkommunisten im Berlin der frühen dreißiger Jahre, welche zudem nach 1933 namentlich „Trotzkistenschweine“ angeprangerten, was letztlich die Gestapo freute; das „harte und trostlose“ Leben nach der Deportation in Boryslaw, die konkrete Entwicklung der Judenverfolgung in Polen seit 1939. Begegnungen unter anderem mit Léon Blum, Bruno Schulz und Oskar Maria Graf geben diesem faszinierenden Zeitbild Kontur und Tiefe.

Reinhard Hesse (Hrsg.): „Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste.“ Die Geschichte von Hilde und Rose Berger.Psychosozial-Verlag, Gießen 2013, gebunden, 224 Seiten, 19,90 Euro

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