© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

„Wir sind die wahren Europäer“
Mit sieben Abgeordneten zieht die AfD ins Europaparlament ein – doch das letzte Mandat stand lange auf der Kippe
Marcus Schmidt

Marcus Pretzell zuckt zusammen und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Gebannt schaut der Rechtsanwalt aus Bielefeld auf einen Großbildschirm im Berliner Maritim-Hotel und muß mit ansehen, wie sein Traum von einem Sitz im Europaparlament wieder ins Wanken gerät. Es ist 21.40 Uhr am Wahlabend und in der neuesten Hochrechnung rutscht die AfD gerade von sieben auf 6,8 Prozent ab. Pretzell weiß, daß es nun kritisch wird. Wenige hundert Stimmen können den Ausschlag geben.

Während für die Alternative für Deutschland (AfD) am Abend der Europawahl bereits um 18 Uhr mit den ersten Zahlen klar ist, daß die im vergangenen Jahr gegründete Partei künftig mit (mindestens) sechs Abgeordneten in Brüssel und Straßburg vertreten sein wird, erlebt der 40 Jahre alte Pretzell als möglicher „siebter Mann“ den längsten Wahlabend seines Lebens.

Sichtlich enttäuscht verfolgte er zunächst, wie Spitzenkandidat Bernd Lucke mit der Parteispitze und den zu diesem Zeitpunkt gewählten Abgeordneten Beatrix von Storch, Ulrike Trebesius, Bernd Kölmel und Joachim Starbatty auf die Bühne trat (Hans-Olaf Henkel gab derweil ein Fernsehinterview). Begleitet wurden sie von ihren Kindern. „Der Grund, warum wir das alles tun, sind unsere Kinder. Darum haben wir sie mit auf die Bühne genommen“, begründete Lucke die medienwirksame Inszenierung. Die als Professorenpartei verspotteten Euro-Kritiker erschienen plötzlich als Jungbrunnen.

Die AfD engagiere sich aus Verantwortung für die Kinder, Deutschland und Europa, fuhr Lucke fort. „Wir sind die wahren Europäer“, sagte er und rief die AfD gleich zur Volkspartei aus. Dies wurde von einigen Kommentatoren angesichts des Ergebnisses der Partei als anmaßend bewertet. Am Montag mußte Lucke vor den Hauptstadtjournalisten im Haus der Bundespressekonferenz nachlegen: Er habe sich nicht auf den Stimmenanteil der Partei sondern auf die Struktur ihrer Wähler bezogen: „Wir haben vom Akademiker bis zum einfachen Arbeiter erheblichen Zuspruch.“ Anders als FDP oder Grüne sei die AfD keine Klientelpartei, sondern eben eine Volkspartei wie Union, SPD oder Linkspartei, verdeutlichte er.

Zwei Stunden nachdem die Wahllokale geschlossen hatten, ging ein Aufschrei durch die Säle des Maritim-Hotels, in dem sich die AfDler gerade mit Buletten und Currywurst stärkten. Gegen 20 Uhr wiesen die Hochrechnungen für die AfD nun sieben Prozent aus. Das bedeutete: sieben statt sechs Abgeordnete: Plötzlich war Marcus Pretzell wieder im Spiel. Ein Hin und Her, das an den Nerven zerrte.

Wesentlich entspannter als Pretzell erlebte Marc Jongen den Wahlabend. Der gebürtige Südtiroler aus Baden-Württemberg stand auf der Kandidatenliste einen Platz hinter Pretzell und hatte von Anfang an nicht mit einem Einzug gerechnet. Und doch ist es nicht unwahrscheinlich, daß er sich früher oder später als Nachrücker ebenfalls auf den Weg nach Brüssel machen kann. Auch wenn am Wahlabend niemand offen darüber reden wollte. In der Partei glaubt kaum jemand, daß am Ende der Legislaturperiode noch alle jetzt gewählten AfD-Abgeordneten im Brüsseler Parlament sitzen werden. Zu groß ist die Erwartungshaltung bei den nächsten Landtags- und Bundestagswahlen, zu dünn die Personaldecke der jungen Partei. So kann sich derzeit kaum jemand in der AfD einen Bundestagswahlkampf ohne einen Spitzenkandidat Bernd Lucke vorstellen. Ähnlich sieht es im Fall Bernd Kölmels aus. Angesichts von neun Prozent für die AfD in den Umfragen auf Landesebene wurden bereits Stimmen laut, die Landeschef Kölmel als „geborenen“ Spitzenkandidaten für die im Frühjahr 2016 anstehende Wahl im Südwesten ansehen. Von Storch und auch Pretzell werden wiederum Ambitionen auf eine Karriere im Bundestag nachgesagt – bleiben Trebesius sowie die beiden „Oldies“ Henkel und Starbatty, bei denen niemand vorhersagen mag, ob sie sich angesichts ihres Alters die komplette Legislaturperiode „antun“ werden.

Trotz ihres Erfolges bei der Europawahl kann sich die AfD vor einer Erkentniss nicht verschließen: Nicht im Europaparlament, sondern in den Landtagen und vor allem im Bundestag wird Politik gemacht. Was ist also der Erfolg vom Sonntag am Ende wert? „Die Leute sehen, daß wir etwas erreicht haben“, sagt AfD-Vize Alexander Gauland, der sich zudem über das gute Ergebnis seines brandenburgischen Landesverbandes freuen konnte. Denn der Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 14. September weiß: Erst bei einem Erfolg bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen könnte tatsächlich davon gesprochen werden, daß die AfD mehr als eine Eintagsfliege ist.

Ganz ungetrübt war die Freude bei den AfD-Mitgliedern und Sympathisanten im Berliner Maritim-Hotel dann doch nicht. Manche hatten sich angesichts der in den letzten Tagen vor der Wahl noch einmal gestiegenen Umfragewerte etwas mehr erhofft. Und auch die Nachwahlbefragungen, derren Ergebnisse unter der Hand herumgereicht wurden, noch bevor die Wahllokale geschlossen hatten, gaben mit sechs bis neun Prozent Stoff zum Träumen. Bei der Analyse des Endergebnisses viel der Blick dann schnell auf Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. In den beiden großen und bevölkerungsreichen Flächenländern schnitt die AfD mit jeweils 5,4 Prozent unterdurchschnittlich ab – wie schon bei der Bundestagswahl.

Und wie damals, als die miesen Zahlen aus den beiden Ländern für das knappe Scheitern an der Fünfprozenthürde verantwortlich gemacht wurden, ist auch jetzt wieder von Organisationsdefiziten in den Landesverbänden die Rede. Lucke ging am Montag auf die „starken Schwankungen“ der Länderergebnise ein. Diese seien sehr abhängig von der Intensität des Wahlkampfes. „Wir waren uns bewußt, daß es in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nicht so gut gelaufen ist“, sagte Lucke. Eine unverhohlene Kritik an den beiden Landesverbänden.

Für Besserung zu sorgen, könnte in Nordrhein-Westfalen bald ausgerechnet die Aufgabe von Marcus Pretzell sein. Nach seinem Einzug ins Europaparlament wird erwartet, daß er auf dem AfD-Landesparteitag an Pfingsten für den Vorsitz kandidiert, um seine Hausmacht abzusichern und seine Position in der Partei weiter auszubauen.

Nicht allen gefallen diese Aussichten. So groß die Freude über das siebte Abgeordnetenmandat für die AfD war – Marcus Pretzell polarisiert in der Partei. Den einen ist er der ersehnte Widersacher, der es wagt, Lucke zu widersprechen. Den anderen ist er ein politisch schwer zu durchschauender Akteur, dem es nicht um Inhalte, sondern um seinen persönliche Vorteil gehe. Pretzell sieht sich selbst durchaus als kritischen Geist. „Manchen bin ich vielleicht zu kritisch“, sagt er. Politisch hält sich Pretzell aber für berechenbar: „Ich bin zu 70 Prozent liberal, und zu 30 Prozent konservativ.“

Am Dienstag flogen die Europaabgeordneten der AfD nach Brüssel. Noch am selben Tag stand ein Gespräch mit dem Niederländer Peter van Dalen von der Christenunion auf dem Terminkalender. Die Partei gehört der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) an, der die AfD beitreten möchte. Schon am Wahlabend hatte sich Lucke in diversen Interviews mit der leidigen Fraktionsfrage herumschlagen müssen. „Nein, es wird keine Zusammenarbeit der AfD mit dem Front National oder der Ukip geben“, hatte er ein ums andere Mal verdeutlicht. Vergeblich. Diese Diskussion wird der AfD vorerst erhalten bleiben.

 

Die Abgeordneten der AfD im Europaparlament

Bernd Lucke

Als unbestrittene Führungsfigur und Aushängeschild der AfD wird Parteisprecher Bernd Lucke auch in Brüssel das Gesicht der Partei sein. Für den 51 Jahre alte fünffachen Familienvater bedeutet der Einzug in das Europaparlament eine Doppelbelastung. Künftig kann er nicht mehr im gleichen Maße wie bisher in der Partei als „Feuerwehr“ unterwegs sein. Für die AfD bedeutet das die Chance oder das Risiko, daß sich neue Führungsfiguren etablieren können. Den Landesverbänden in Sachsen, Thüringen und Brandenburg hat Lucke jedenfalls schon versprochen, für sie im Sommer Landtagswahlkampf zu machen.

 

Hans-Olaf Henkel

Der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel ist daran gewöhnt, an herausragenden Positionen zu stehen. Anders in Brüssel: Dort wird der frühere Spitzenmanager einer von 751 Abgeordneten sein. Eine Rolle, in die Henkel erst hineinfinden muß. Mehrfach ließ der 74jährige durchblicken, daß ein Sitz im EU-Parlament nicht unbedingt sein Traum gewesen ist. Dennoch dürfte der international erfahrene und bestens vernetzte Henkel in Brüssel eine gute Figur machen. Er könne sich vorstellen, im Menschenrechtsausschuß des Europaparlamentes mitzuarbeiten, sagte das Mitglied von Amnesty international.

 

Bernd Kölmel

Der Ministerialrat im Rechnungshof von Baden-Württemberg kennt sich mit Zahlen aus. In Haushalts- und Finanzfragen wird die AfD in Brüssel damit über einen ausgewiesenen Experten verfügen. Zugleich hat sich der AfD-Landeschef von Baden-Württemberg in seiner Partei einen Namen als ausgleichender Moderator gemacht. Dem 55 Jahre alten Kölmel könnte daher eine zentrale Funktion innerhalb der AfD-Gruppe zukommen, was Lucke entlasten würde. In Brüssel will sich Kölmel vor allem gegen die Verschwendung von Steuergelder durch die EU einsetzen.

 

Beatrix von Storch

Die Vorsitzende der Bürgerrechtsbewegung Zivile Koalition wird als Abgeordnete ganz besonders unter Beobachtung der Medien stehen. AfD-Gegnern gilt die 42 Jahre alte Rechtsanwältin als Inbegriff einer erzkonservativen christlichen Fundamentalistin. Von Storch ist gut vernetzt, ihr Einfluß in der Partei ist dennoch schwer einzuschätzen. Ihr Verhältnis zu Lucke ist nicht völlig unbelastet. Es wird interessant zu sehen sein, wie sich die auf Eigenständigkeit bedachte von Storch in die Gruppe der AfD-Abgeordneten einfügen wird. Im Europaparlament will sie sich unter anderem dafür einsetzen, die Familie zu stärken.

 

Joachim Starbatty

Kaum einem AfD-Kandidaten hat man die Freude am Wahlkampf so angesehen wie Joachim Starbatty. Der 74 Jahre alte Euro-Kritiker der ersten Stunde reiste unermüdlich von Wahlkampfveranstaltung zu Wahlkampfveranstaltung. Auf seine Reden vor dem Europaparlament darf man gespannt sein. In Brüssel will Starbatty im Außenpolitischen Ausschuß mitarbeiten. „Außenpolitik ist Währungspolitik“, sagt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler. Unter den AfD-Abgeordneten könnte er ähnlich wie Kölmel eine vermittelnde Rolle einnehmen.

 

Ulrike Trebesius

Die AfD-Sprecherin von Schleswig-Holstein ist politisch bislang eher unerfahren. Ihre Kandidatur für die Europaliste wurde maßgeblich von Parteichef Lucke unterstützt. Unter den AfD-Abgeordneten in Brüssel wird die 43 Jahre alte Bauingenieurin, die zu den AfDlern der ersten Stunde gehört, dennoch zunächst nur eine Nebenrolle spielen. Ihr besonderes Augenmerk will Trebesius im EU-Parlament auf den Kampf gegen die Bürokratie legen.

 

Marcus Pretzell

Der 40 Jahre alte Rechtsanwalt aus Bielefeld ist so etwas wie der junge Wilde der Partei. Gleich zweimal, bei der Kandidatur um Platz zwei der Europaliste und bei der Wahl zum AfD-Vizechef, trat Pretzell gegen Hans-Olaf Henkel an. Beide Male unterlag er nur knapp. Für seine Teilnahme an einer Veranstaltung mit Ukip-Chef Nigel Farage handelte sich Pretzell, der dem konservativ-liberalen Flügel seiner Partei zugerechnet wird, einen Rüffel durch den Vorstand ein. Auch wenn Lucke eine gemeinsame Fraktion mit den britischen EU-Kritikern ausschließt. Pretzell könnte im Europaparlament dennoch Kontakt halten.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen