© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Hundert Gramm Zucker
Falsche Ernährung und Bewegungsmangel: Kinder und Jugendliche werden immer dicker
Markus Brandstetter

Machen wir den Fototest. Der geht so: Sie holen sich drei Bilder von Schulklassen: eins von 1910, eins von 1980 und eins von jetzt. Was sehen Sie? Genau: Vor dem Ersten Weltkrieg waren alle Kinder schlank. Ein Kind war dick, das ist der Sohn des Metzgers oder die Tochter vom Konditor. Siebzig Jahre später sind fünf oder sechs dick, und die meisten anderen sind nicht mehr dünn, sondern „kräftig“. Nochmal 30 Jahre später ist ein Viertel der Kinder richtig dick, eigentlich „fett“, aber so sagt man heute nicht mehr.

In Wirklichkeit weiß das jeder, wer aber Zahlen braucht, der kann sie haben. Die Menschen der industrialisierten Welt werden überall dicker, von Jahr zu Jahr. Am schlimmsten ist es in Mexiko, da sind 70 Prozent der Bevölkerung übergewichtig, in den USA, Brasilien, Südafrika und Großbritannien sind es zwei Drittel.

In Deutschland sind laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen übergewichtig, 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen sind adipös, leiden also an krankhafter Fettsucht. Bei den Kindern sind zehn Prozent der Drei- bis Sechsjährigen übergewichtig, bei den Elf- bis Dreizehnjährigen sind es 19 Prozent, und zwischen vierzehn und siebzehn pendelt sich die Rate bei Jungen wie Mädchen um die siebzehn Prozent ein. Richtig schlank sind die Menschen nur noch mitten in Afrika und in Indien, da gibt es nur zwei Prozent Dicke. Auch unter den Dicken kann man nochmals Unterschiede machen: Männer sind dicker als Frauen, Alte dicker als Junge, Schwarze dicker als Weiße und Dumme dicker als Intelligente.

Dicke sind zwar, wie Cäsar einmal gesagt hat, gemütlich, lustig und entspannt, aber sie leben auch mit höheren Risiken: Sie erkranken öfter und schwerer an Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes, sie leiden öfter und früher an Alzheimer und Demenz, sie sterben früher.

Die Gründe für all das sind längst bekannt, trotzdem tun Ärzte, Forscher und Nahrungsmittelhersteller immer noch so, als wären die Ursachen genauso mysteriös wie die Lage von Atlantis.

Trivial ausgedrückt nehmen Dicke mehr Kalorien zu sich, als sie verbrennen, aber das allein ist es nicht. Die entscheidende Frage ist, welche Kalorien aus welchen Nahrungsmitteln sie zu sich nehmen und wieviel davon. Die Hauptprobleme unserer Ernährung sind weniger die Fette – das war die alte Theorie –, sondern der Zucker und zuckeridentische Stoffe.

Natürlich spielen Bewegungsmangel und gesellschaftliche Faktoren eine Rolle. Ja, die heutigen Kinder sitzen stundenlang vor Computer und Fernseher, aber Computer und Fernseher gibt es nun schon seit Jahrzehnten, das allein kann es also nicht sein. Es stimmt auch, daß durch den Zerfall der Kernfamilie und das Aussterben der Salate schnippelnden Mütter mehr Kinder immer mehr Hamburger, Fritten und Tiefkühlpizzas essen, aber Kinder aus Familien, wo zweimal am Tag gekocht wird, sind nicht so viel schlanker als solche aus Scheidungsfamilien und mit berufstätigen Eltern.

Nein, das Hauptproblem ist, wie Robert Lustig von der University of Berkeley in Kalifornien überzeugend nachgewiesen hat, der Zucker, und hier nicht der Fruchtzucker oder der normale Kristallzucker, den wir in Kaffee und Tee tun, sondern Maissirup. Dieses Zuckerkonzentrat, das billigst aus Maisstärke hergestellt wird, wurde 1972 von einem Japaner entdeckt, und hat seitdem einen Siegeszug durch alle Industrienationen angetreten. In jeder Limonade, jedem Fruchttee, jedem Erfrischungsgetränk bis auf Mineralwasser, in Cola, Fanta und Sprite, in jeder Eiscreme, jeder Marmelade, jedem Fruchtjoghurt, in Senf, Ketchup und sogar in Tiefkühlpizzas ist dieses Wundermittel in rauhen Mengen drin.

Wenn Maissirup mehr als fünf Prozent Fructose, also Fruchtzucker enthält, dann wird er auf den Verpackungen als Glucose-Fructose-Sirup deklariert, aber das macht die Sache nicht gesünder, es klingt nur besser. Menschen in westlichen Ländern nehmen heute jeden Tag hundert Gramm Zucker nur in Form von Glucose-Fructose-Sirup auf, vor dreißig Jahren war es die Hälfte.

Studien der Universität Oxford zeigen, daß Maissirup eine der Hauptursachen für die Diabetes-II-Epidemie der letzten Jahre ist – und damit auch für die grassierende Fettleibigkeit, weil Maissirup vom Körper viel schneller resorbiert wird als gewöhnlicher Rohr- oder Rübenzucker. Dadurch kommen die Langerhansschen Inseln, die Insulin produzieren und ausschütten, so lange unter Dauerbeschuß, bis sie irgendwann den Dienst quittieren und der Betroffene an Diabetes II erkrankt.

In diesen Hexenkessel aus Zahlen, Theorien, Industrieinteressen und gesundheitlichen Problemen platzte nun die rot-grüne Landesregierung von Nordrhein-Westfalen mit einer revolutionären Ankündigung: Grundschüler sollen zukünftig regelmäßig einen Fitneß-Test absolvieren. Wer nicht besteht, dem zahlt der Staat eine Mitgliedschaft im Sportverein.

Hier zeigt sich wieder einmal, daß gut gemeint das Gegenteil von realistisch und intelligent ist. Aus dicken Kindern werden keine schlanken Sportskanonen, nur weil die Eltern sich den Sportverein nicht leisten können. Es liegt nicht am Geld der Eltern, sondern an ihrer Einstellung.

Auch die Wissenschaft gibt den Erfolg nicht her: Ein Kind verbrennt beim Sport in 50 Minuten etwa 150 Kilokalorien, ein halber Liter Cola hat aber 220 Kalorien, und so eine Flasche ist gleich nach dem Sport binnen Minuten ausgetrunken.

Nein, das Ganze hat mit der Sorge um unsere Kinder und deren Gesundheit gar nichts zu tun, mit staatlicher Gängelei und Bevormundung aber jede Menge. SPD und Grüne wollen seit Jahr und Tag den Einfluß des Staates auf den Bürger ausweiten, weil sie wissen: Kann der Staat auch noch in die privatesten Belange eingreifen, dann kuscht der Bürger woanders auch.

Überhaupt ist die Aktion ein Ablenkungsmanöver erster Güte: Anstatt Bildungsmisere, Pisa-Katastrophe, Drogen, und Gewaltkriminalität an den Schulen in den Griff zu bekommen, kann man hier mit Lärm, Rauch und Gedöns auf Spatzen schießen, Geier und Raubvögel aber tumb starrend vorbeiziehen lassen.

Foto: Süßkram: Das Hauptproblem ist nicht der Schokoriegel, sondern ein billig herzustellendes Zuckerkonzentrat, das sich in vielen Lebensmitteln findet

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