© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Wenn der Großvater ein SS-Mann war
Vergangenheitsbewältigung: Der promovierte Historiker Per Leo hat mit „Flut und Boden“ einen vielbeachteten und bemerkenswerten Familienroman über die NS-Zeit geschrieben
Thorsten Hinz

Den Preis der Leipziger Buchmesse hat Per Leo für seinen Roman „Flut und Boden“ zwar nicht bekommen, doch die kurze Zeitspanne, in der die Presse ihn als heißesten Preisanwärter handelte, reichte aus, um den 41jährigen im Literaturbetrieb zu etablieren. „Flut und Boden“ ist sein Debütroman. Die Jury würdigte ihn mit den Worten: „Der Historiker Per Leo hat jetzt die eigene Familiengeschichte mit ungewohnten stilistischen und dramaturgischen Mitteln zum Roman geformt. Der sehr heutige ‘Nazienkel’ arbeitet sich, mit großer Zuneigung zu seinen Figuren, auch in die dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit hinein.“

Der Autor hat die Klarnamen seiner Angehörigen beibehalten. Die Leos waren eine wohlsituierte Bremer Familie, in der sich das Besitz- mit dem Bildungsbürgertum mischte. Zu den Vorfahren zählen Reeder, Werftbesitzer, Historiker, Theologen, Pfarrer, Professoren. Auf die Familiengeschichte sieht der Ich-Erzähler, ein Geschichtsstudent von Mitte Zwanzig, sich verwiesen, als er eine Orientierungs-, Identitäts- oder Sinnkrise durchlebt. Mit der Therapeutin vom Psychosozialen Notdienst einigt er sich darauf, daß die Schwierigkeiten mit dem Großvater Friedrich Leo zusammenhängen, einem SS-Mann, der im Rasse- und Siedlungshauptamt tätig war. Durch die Identifizierung als „Nazienkel“ besitzt der Erzähler endlich etwas unbezweifelbar Eigenes, das ihm Identität und Sicherheit gibt.

Als direkter Nachfahre einer „wohlverpackten Mischung aus alter Familie und blondem SS-Offizier“ zieht er Interesse auf sich. „Ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit der Edelnazimasche ins Bett kriegen können.“ Der letzte Sexappeal, den die Deutschen in ihren und in den Augen der Welt besitzen, leitet sich – Leni Riefenstahl und dem SS-Uniform-Schneider Hugo Boss sei Dank! – vom Nationalsozialismus her.

Während der Erzähler darüber nachgrübelt, wie sein Großvater – und das deutsche Bildungsbürgertum überhaupt – dem Nationalsozialismus anheimfallen beziehungsweise sich mit ihm arrangieren konnten, findet er zu sich selbst. Sein Großonkel Martin, der die humanistische Bildungstradition fortsetzte und vom NS-Regime verfolgt wurde, schält sich als Gegenbild zum Großvater heraus, mit dem er nie vertraut geworden ist. Durch ihn söhnt er sich mit der Familiengeschichte aus.

Hilfestellung gab ihm der Historiker Ulrich Herbert. In dessen Seminaren gewöhnt Per Leo sich das „kirchentagsmäßige Bild vom Holocaust“ sowie die selbstgerechten und billigen Anklagen ab, die seine Generation an die Vorgängergeneration richtet. Herbert ist Verfasser eines voluminösen Werks über Werner Best, den hochgebildeten Juristen und SS-Mann, der unter anderem als Bevollmächtigter des Reiches in Dänemark amtierte. Best steht stellvertretend für die Generation von Bürgersöhnen, die im Ersten Weltkrieg aufgewachsen und von den Wirren der Nachkriegszeit geprägt worden ist. Nach 1933 vereinte sie in sich die Eigenschaften des Technokraten mit denen des nationalsozialistischen Weltanschauungskämpfers. Der Erzähler glaubt, in diesem Persönlichkeitsprofil auch den Großvater zu erkennen und empfindet – bei aller inhaltlichen Ablehnung – eine gewisse Empathie. In den Seminaren des Professors erlebt er, „wie erfrischend männliche Strenge wirken kann. (...) Wir wollten Herbert gefallen, so wie die jungen SS-Offiziere Best und die jungen Bests zuvor Ernst Jünger hatten gefallen wollen.“ Oha!

Anfälligkeit des Kulturprotestantismus

Per Leos Roman hat bei den Rezensenten großen Anklang gefunden und teilweise Begeisterung geweckt. Tatsächlich ist das Buch überdurchschnittlich. Der Autor beherrscht die Montagetechnik und mischt die Alltags-, Pop- und Fußballslangs stilsicher mit Franz Schubert und Stefan George. Die kurzgefaßte Geschichte des deutschen Protestantismus, der sich seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr auf unbedingten Glauben stützte und zum verweltlichten Kulturprotestantismus wurde, sowie die Passagen zur Graphologie des Ludwig Klages sind geist- und sprachlich glanzvoll.

Im übrigen aber wirkt die Erzählweise deskriptiv, akademisch. Der Fehler liegt beim Autor, nicht am Sujet, wie ein Blick in Marguerite Yourcenars ähnlich konzipierte Familientrilogie „Das Labyrinth der Welt“ zeigt. Der Dualismus zwischen Friedrich und Martin liest sich wie eine effekthascherische Variation der faustischen Zwei-Seelen-Lehre. Und kann Friedrich Leo, der Großvater, überhaupt als eine fehlgeleitete Möglichkeit des Bildungsbürgers gelten? Sein selbstverfaßter kurzer Lebenslauf, den der Enkel zitiert, ist mit immerhin sieben Rechtschreibfehlern gespickt. Und das „Sittengesetz“, das er seinen Söhnen in Schriftform übermittelt, liest sich wie eine unfreiwillige Parodie seiner selbst. Nein, Friedrich Leo genügt keinen bildungsbürgerlichen Maßstäben und scheint das auch zu wissen. Er paßt nicht in das Werner-Best-Muster.

Überzeugender sind die Ausführungen Per Leos über die Anfälligkeit des Kulturprotestantismus gegenüber der NS-Ideologie, die sich mit religiösen Versatzstücken schmückte. Die Anfälligkeit bestätigt sich in der Verbindung mit der sich um den Holocaust rankenden Zivilreligion. Allerdings gehorcht der Autor ebenfalls einem kulturprotestantischen Furor, der ihn ständig danach fragen läßt, wie „es“ geschehen konnte, anstatt das „Es“ zum Gegenstand der freien künstlerischen Imagination zu machen.

Fehltritt des deutschen Geistes

Das „Es“, der Nationalsozialismus, wird rein idealistisch und immanent, als Fehltritt des deutschen Geistes, erklärt und die Realgeschichte darüber vernachlässigt. Das Erklärungsmodell Ulrich Herberts, an das sich Leo anlehnt, ist deplaziert und überdies zu simpel. Herbert hat über die Generation von Werner Best und Friedrich Leo geschrieben, für sie sei das „Schreckliche“ die „unumgängliche Notwendigkeit für die Interessen des eigenen Volkes“ gewesen. Sie hätten die „herkömmliche Moral“ hinter sich gelassen, weil sie dies für richtig und notwendig ansahen, nicht weil sie „persönlich, emotional beteiligt waren“. Die Erklärung bleibt aber unvollständig, wenn man nicht sofort auch die spiegelbildlichen Zitate von und über Robespierre, Lenin, Trotzki oder Stalin anführt.

Konzeptionell fällt „Flut und Boden“ hinter Iris Hanikas Roman „Das Eigentliche“ zurück. (vgl.: „Ohne KZs wären wir alle arbeitslos“, JF 26/10). Auch bei Hanika lebt die männliche Hauptfigur hauptsächlich vom „Unglück“ der NS-Vergangenheit. „Wenn er es von sich abzog, blieb nichts von ihm übrig, nichts. Gar nichts.“ Die Paranoia ist hier aber keine innere Notwendigkeit, sondern ein Zwang, der im „Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung“ konzipiert und verwaltet wird. Das Institut ist 16 Stockwerke hoch, 120 Meter breit und befindet sich im Zentrum der Stadt: eine Anspielung an Orwells Wahrheitsministerium und das Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Per Leo wiederholt den Fehler, der fast alle deutschen Romane über das Dritte Reich prägt. Er wagt sich an das historische „Es“ nicht wirklich heran, er umkreist es bloß und behandelt es als ein Absolutes, als negatives Numinosum. Der frühere Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer schrieb 1987 im Aufsatz „Über das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein“, daß das „reale Böse“, der Nationalsozialismus, das imaginative Böse in der Literatur „tabuisiert“ hätte. In Wahrheit hat es seinen Platz eingenommen.

Weil auch Per Leo im Bann dieser Okkupation steht und das historisch-konkrete als ein absolut Böses annimmt, braucht er es mit den Einzelheiten nicht so genau zu nehmen. Die Hauptsache ist der stimmige Sound. Sein Großvater, schreibt er, habe Frankreich „sehr sportlich (...) überfallen“. Als Metonymie, als rhetorische Figur, ist das witzig, aber peinlich für den Historiker, denn es war Frankreich, das – im Schlepptau Englands – am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärte. Per Leo ist ein brillanter Kopf, doch zum großen Romancier fehlt ihm die Kühnheit etwa eines Céline. Im Rahmen des deutschen Literaturbetriebs ist sein Buch immerhin bemerkenswert.

Termine: Per Leo liest aus seinem Buch am 2. Juni in Karlsruhe in der Hochschule für Gestaltung (19.30 Uhr) und am 11. Juni in Berlin im Literaturforum im Brecht-Haus (20 Uhr).

www.klett-cotta.de

Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie. Klett-Cotta, Stuttgart 2014, gebunden, 350 Seiten, 21,95 Euro

Foto: Per Leo: Ein brillanter Kopf, doch zum großen Romancier fehlt ihm die Kühnheit etwa eines Céline

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