© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Einiges auf dem Kerbholz
Die Kunst des Tötens: Schwarzweiß-Fotos eines jungen Tschechen erinnern an die Ermordung der Sudetendeutschen / Ausstellung in einer Chemnitzer Galerie
Paul Leonhard

Die gute Stube stammt aus den 1930er Jahren: Sofa, Sessel, ein Tisch, Petroleumlampe, ein Regulator. An der Wand hängt ein großes Bild der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind. Eine junge Frau sitzt auf dem Sofa, neben ihr liegt ein Kind, auf dem Teppich, neben einem Spielzeughaus, ein zweites. Alle drei sind tot. Die Frau hieß Emma Pope. Sie tötete am 10. Mai 1945 erst ihre beiden Kinder und dann sich selbst. In Grulich (Králiky) war das.

Warum Emma Pope Selbstmord beging, zeigen andere Szenen, die an Grausamkeit kaum zu übertreffen sind: Ein auf einer Pritsche festgeschnallter nackter Mann wird sadistisch gefoltert, Frauen werden von Uniformierten vergewaltigt, Zivilisten erschlagen, erschossen und ertränkt.

„Die Kunst des Tötens“ hat der tschechische Fotograf Lukáš Houdek eine Fotoserie genannt, die noch bis 22. Juni in der „alina Art Galerie“ in der Schönherrfabrik Chemnitz zu sehen ist. Die 25 Schwarzweiß-Aufnahmen machen auf die an deutschen Zivilisten in Böhmen und Mähren nach Kriegsende verübten Massaker aufmerksam. „Ich möchte der Öffentlichkeit mitteilen, was passiert ist, vielleicht sollten wir ja darüber reden“, sagt der 28jährige. Er gehört zu einer Generation junger Tschechen, die sich daranmachen, die Ereignisse der ersten Nachkriegsmonate aufzuarbeiten.

Als Houdek die Ausstellung vor einem Jahr in der Technischen Nationalbibliothek Prag und am Ufer der Moldau zeigte, stieß er bei tschechischen Zeitzeugen auf wenig Gegenliebe. Auch nicht bei tschechischen Nationalisten. Die Schau fiel in die Zeit der Präsidentenwahlen in Tschechien, und die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg war zu einem beherrschenden Thema geworden. Ohnehin erinnert man sich in den Städten und Dörfern, deren deutsche Bevölkerung ausgeraubt und ermordet wurde, nur ungern. Houdek sei zu jung, um sich mit diesen historischen Ereignissen zu beschäftigen, hieß es.

Houdek, aufgewachsen in einem Plattenbau im westböhmischen Mies (Stribro), hat sich seit seiner Kindheit mit dem Schicksal der Sudetendeutschen beschäftigt. Seine Großmutter lebte in einem Haus, in dem einst Deutsche wohnten. Als Kind habe er nach dem vergrabenen Schmuck der Verschwundenen gesucht. Später entdeckte er zerstörte deutsche Gräber. Houdek begann in Archiven zu forschen und die Erinnerungen von Zeitzeugen zu lesen. „Auf einmal erfuhr ich, was sich nach dem Krieg abgespielt hat, zuvor hatte ich das nicht geahnt“, sagte er gegenüber Radio Prag. Er sei so tief betroffen gewesen.

„Grausame Hinrichtungen wurden nicht nur von bewaffneten Einheiten durchgeführt, sondern auch von tschechischen Zivilisten, die sich für das Unrecht, was geschehen war, rächen wollten“, schreibt Houdek auf seiner Internetseite. „Die Anstifter dieser brutalen Taten waren oft Mitglieder der Revolutionsgarden, die sich aus Partisanen und Überlebenden des Prager Aufstands rekrutierten.“ Aber auch Soldaten der regulären tschechischen Armee hätten sich beteiligt. Man merkt dem Fotografen die Erschütterung über das Erfahrene an. Der Massenmord an den Sudetendeutschen ist noch immer ein Tabuthema. Man will nicht wissen, wie die eigene Familie zu ihrem Haus gekommen ist. Denn die Nachbarn waren dabei, als getötet wurde. Sie spekulierten auf das Eigentum der Opfer.

Der Mord an den eigenen Landsleuten wurde jahrzehntelang verdrängt. Seit der Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Panzer 1968 schufen sich die Tschechen den verlogenen Mythos eines liebenswerten, unterdrückten Volkes, das bis 1938 eine mustergültige Demokratie besaß und eine vorbildliche Minderheitenpolitik betrieb. „Verschweigen wurde so erste Bürgerpflicht“, bezeichnete das der Spiegel in einem Bericht über die Ermordnung von 2.000 Sudetendeutschen im Juni 1945 in der Kleinstadt Postelberg (Postoloprty).

Wie sich aber dem Mord an bis zu 40.000 Zivilisten annähern? Houdek hat eine gewagte Idee umgesetzt. Er hat die Akte der Gewalt der Anonymität entrissen, auf Puppenstubengröße geschrumpft und als Darsteller Barbiepuppen verwendet. Die dreidimensionalen Szenen hat Houdek dann fotografiert und vergrößert. Und er hat den Puppen konkrete Namen gegeben. Anna Pausch, die 21jährige Krankenschwester, die erst verprügelt und dann erhängt wurde, hat es tatsächlich gegeben. Sie lebte im Adlergebirge und starb am 26. Mai 1945. Auch das etwa achtzigjährige Ehepaar Karel und Markéta Kutscher, das am 11. Juni 1945 Selbstmord beging.

„Ich wollte auch Geschichten konkreter unschuldiger Menschen erzählen, die nach dem Krieg ermordet wurden, oft nur aus dem Grund, daß sie einen deutschen Familiennamen hatten“, sagte Houdek gegenüber Radio Prag. Dargestellt sind aber auch Szenen vom Brünner Todesmarsch.

Die Ausstellung macht betroffen. Houdeks Fotos kann man nur schwer ausweichen. Man dürfe dieser Diskussion über die Ereignisse der Nachkriegszeit nicht länger aus dem Weg gehen, sagt der Fotograf: „Wir haben einiges auf dem Kerbholz, und das hier ist offenbar die empfindlichste Kerbe.“

Die Ausstellung „Die Kunst des Tötens“ ist bis zum 22. Juni in der „alina Art Galerie“ in der Schönherrfabrik Chemnitz täglich außer montags von 16 bis 19 Uhr, Sa./So. von 11 bis 17 Uhr, zu sehen.

www.alina-gallery.com

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