© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Das Gruselmärchen von den abgehackten Kinderhänden
Vorabdruck des Mitte Juni erscheinenden Buches von Karlheinz Weißmann über die alliierte Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg / Teil 2
Karlheinz Weissmann

Übertroffen wurde die Widerwärtigkeit der meisten Berichte zu angeblichen Verbrechen deutscher Soldaten durch die Behauptung, daß die Deutschen kleine Kinder auf Bajonette spießten, an Türen nagelten oder die Hände abschnitten beziehungsweise abhackten. Am 27. August 1914 hatte die Times gemeldet: „Ein Mann, den ich nicht gesehen habe, sagte einem Vertreter der Katholischen Gesellschaft, daß er mit eigenen Augen gesehen habe, daß die deutsche Soldateska die Arme eines Babys abgehauen habe, das sich an die Schürze seiner Mutter klammerte.“ Am 29. August vermerkte die Daily Mail lapidar, Deutsche schnitten ihren Opfern Ohren und Hände ab, am 2. September berichtete ein Korrespondent desselben Blattes, französische Flüchtlinge hätten ausgesagt: „Sie schneiden die Hände kleiner Jungen ab, so daß sie nie Soldaten Frankreichs werden können.“ Am 5. Februar 1915 meldete der Pariser Matin, der brasilianische Militärattaché habe in einem Krankenhaus „einen armen Kleinen gesehen, der mit famoser Naivität fragte, ob man ihm seine Hände als Neujahrsgeschenk wiedergeben könne“, im Mai 1915 veröffentlichte der Sunday Chronicle die Meldung, daß in einem Pariser Hospital eines der überlebenden Kinder gepflegt werde, der Pariser Figaro bot Mediziner auf, die die Verwundungen gesehen und versorgt hätten.

Obwohl relativ früh Zweifel an der Geschichte von den abgehackten Kinderhänden aufkam, erklärte die britische Regierung die Behauptungen zu Tatsachen und schloß sich das britische Parlament dieser Sicht der Dinge an. Faktisch konnte niemals irgendein Beweis für derartige Greuel erbracht werden. Trotzdem kursierten in den Ländern der Entente und vielen neutralen Staaten zahllose bildliche Darstellungen der Verstümmelten, oder solche, bei denen entweder namenlose deutsche Soldaten oder der Kaiser selbst die Grausamkeit verübten. In Italien wurde sogar eine Nippesfigur mit dem Titel „Fanciulla Belga“ – „Belgisches Mädchen“ angeboten, auf der ein sitzendes Kind Mitleid heischend seine Stümpfe emporreckte.

Die Ursache dieser Fixierung ist schwer zu erklären. Abgesehen von der generellen Furchtbarkeit kann man darauf hinweisen, daß in den muslimisch geprägten Ländern das Abhacken von Händen als Strafe nach wie vor angewandt wurde und in Europa als typischer Ausdruck von Barbarei galt. Schon seit der Jahrhundertwende gab es eine öffentliche Diskussion über die brutale belgische Kolonialherrschaft im Kongo, zu deren Praktiken auch das Abschlagen der Unterarme beziehungsweise Hände der Eingeborenen gehörte, wenn diese nicht das vorgeschriebene Kontingent an Rohgummisaft lieferten.

Im Jahr 1909 erregte Conan Doyles Buch „The Crime oft the Congo“ großes Aufsehen, in dem es um die Zustände in dem zentralafrikanischen Land ging. Eine Bildtafel gegenüber der Titelseite zeigte mehrere Eingeborene, denen eine Hand abgetrennt worden war, der Text brachte den Bericht Roger Casements über die dann sprichwörtlich gewordenen „Kongo-Greuel“. Sollte sich die Behauptung von den deutschen Greueltaten aus diesem Zusammenhang erklären, hätte man es mit einem klassischen Fall von „Spiegelung“ im psychoanalytischen Sinn zu tun.

Fest steht jedenfalls, daß die Vorstellung von der besonderen deutschen Grausamkeit gegenüber Kindern während des Krieges zu einer allgemeinen Überzeugung wurde. Noch im Juli 1918 erklärte der Oberkommandierende des US-Expeditionskorps, seine eigenen Erfahrungen erlaubten ihm, festzustellen, daß „die Deutschen Kindern vergiftete Süßigkeiten zu essen und Handgranaten geben, um damit zu spielen; sie zeigen ihre Fröhlichkeit, wenn sich die Kinder sterbend krümmen und lachen laut, wenn die Granaten explodieren“.

Karlheinz Weißmann: Die Erfindung des häßlichen Deutschen. JF Edition, Berlin 2014, gebunden, ca. 200 Seiten, Abbildungen, 34,90 Euro

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