© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Der Flaneur
Auf dem Balkon Europas
Sebastian Hennig

Prags Sommerberg Letná könnte mit mehr Recht als ein Balkon Europas oberhalb der Moldau gelten als die kleinere und niedrigere Terrasse über der Elbe in Dresden. Während dort überwiegend die Touristen flanieren, ist auf der Letná ausschließlich das Volk von Prag im Freien fröhlich. Und wer selbst nicht mitspektakelt, der mag sich dazwischensetzen, schauen und hören.

Über die Wiese tollen Kinderhorden. Sie stürmen zusammen und stieben auseinander wie ein Schwarm Spatzen. Unter dem Laubdach der Kastanien lassen alte Herren silberne Kugeln rollen. Während sie diese ruhig schieben, erproben die Jungen haltlose Situationen.

Junge Recken proben im Gras verwegene Luftsprünge mit Anlauf oder aus dem Stand.

Zwischen den Stämmen sind ein halbes Dutzend Schlingerleinen gezogen, hoch und tiefer, länger oder kürzer, angepaßt dem Geschick des Balanceurs. Die meist langen Haare sind immer straff zum Knoten gebunden. Andere junge Recken proben im Gras verwegene Luftsprünge mit Anlauf oder aus dem Stand.

Ein paar Schritte weiter erstreckt sich eine öde Anlage, welche verspätet für jenen dreißig Meter hohen Stalingötzen bereitet wurde, den man bald darauf wegsprengte. Seither sprengt der Frost immer noch weiter an den Treppen der menschenfeindlichen Fundamentierung. Rollbrettartisten bedienen sich der abgefallenen Granitplatten und stützen sie über Trümmerstücken zu Schanzen auf.

Am Kiosk wird Bier und Eis verabreicht. Am Trinkwasserbrunnen drängt sich eine Menschenschlange. Doch unverzüglich wird das eben Getrunkene ausgeschwitzt.

Es ist ein heißer Tag nach lange währender Kälte und anhaltendem Regen. Doch da es bislang sowenig Hitze gab, klagt niemand über sie. Ohnehin verstünde ich kein Wort. Doch erkenne ich alles, was sich hier ereignet. Es ist universal und trägt doch eine lokale Prägung. Der kontemplative Geist ist allgemein durch sein Temperament und im besonderen Fall durch die Sprachbarriere distanziert. Der versagte Osterspaziergang und seine ausgebliebene Hoffnungsfreude werden mit solchen Sommertagen vergolten. Hier bin ich Mensch, hier schau ich zu.

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