© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Der Bürgerwille zählt
Direkte Demokratie: Während die Deutschen für mehr Volksentscheide plädieren, begegnen Politik und Wissenschaft dem Vorhaben reserviert
Christian Schreiber

Überraschend kam das Votum der Berliner für den Regierenden Bürgermeister nicht. Kaum darüber informiert, daß sich 64,3 Prozent der Spreeathener mittels Volksentscheids gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes ausgesprochen hatten, trat Klaus Wowereit (SPD) beinah ungerührt, fast trotzig vor die Mikrofone und erklärte, daß der Volksentscheid ein klares Ergebnis erzielte, das „akzeptiert werden“ müsse. Zwar sei das Votum politisch nicht bindend, doch der Bürgerwille gelte. Daher dürfe, so der 60jährige weiter, das Votum nicht in Frage gestellt werden.

Ob das Ergebnis in Berlin oder der spektakuläre Ausgang des Schweizer Referendums über einen weiteren Zuzug von Ausländern (JF 8/14) – die Diskussion um die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden ist kaum aufzuhalten.

Im Parlamentarismus Nachkriegsdeutschlands sind solche Instrumente nicht vorgesehen, dennoch hat es in der Vergangenheit wiederholt Debatten über eine mögliche Direktwahl des Bundespräsidenten gegeben oder eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro.

Im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung hat das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) die Auswirkungen von Bürgerbeteiligungen und Volksentscheidungen auf die Demokratie untersucht. Das Institut geht dabei davon aus, daß sich der Volkswille durch Partizipation direkt und ungebrochen ausdrücken könne.

Hohe Identifikation mit dem Gemeinwesen

Die spannende Frage bei der Analyse der Auswirkungen von Volksentscheiden ist, welches politische Lager von einer direkten Bürgerbeteiligung profitiert. Die konservativen Befürchtungen, daß Volksabstimmungen zu einer Anspruchsinflation und einem Überbietungswettbewerb im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich führen könnten, lassen sich nach der Studie des WZB nicht erhärten. Eher das Gegenteil sei der Fall.

Volksabstimmungen in der Schweiz führten in der Regel zu Steuer- und Ausgabensenkungen. Dort gebe es einen leichten positiven Zusammenhang zwischen Volksabstimmungen und einer geringeren öffentlichen Verschuldung, heißt es in dem Papier. Die Steuermoral sei um so höher, je mehr die Bürger selbst über Steuern und Abgaben entscheiden dürfen.

Als großes Problem habe sich aber in der Vergangenheit die oftmals geringe Beteiligung an Volkabstimmungen oder Direktwahlen herausgestellt.

Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler aus Berlin, der die Studie des WZB durchführte, hält es daher auch für übertrieben, von einer „Bürgerdemokratie“ zu sprechen. Denn, so Merkel, nicht nur in Deutschland, auch in klassischen Referendumsländern wie der Schweiz oder Italien sei die Beteiligung „hochgradig selektiv“. Überall liege die Beteiligungsrate deutlich unter der bei Parlamentswahlen. Gerade dort, wo es häufig Referenden gebe, sinke die Beteiligung.

In der Schweiz liegt sie bei durchschnittlich 43 Prozent. Merkel geht so weit davon zu sprechen, daß die direkte Demokratie eine „Demokratie der Oberschichten“ sei: „Volksabstimmungen weisen im Vergleich zu Parlamentswahlen in der Regel eine höhere soziale Selektivität auf. Die Mittelschichten und oberen Schichten dominieren, die unteren Schichten bleiben weg. Nicht das Volk, sondern eine soziale Schrumpfversion des Volkes stimmt ab.“

Die Vorstellung, die Existenz von Volksabstimmungen fördere generell die Wahlbeteiligung, treffe daher nicht zu. In der Schweiz und im US-Bundesstaat Kalifornien, wo die Direkte Demokratie eine lange Tradition hat, sei die Wahlbeteiligung besonders niedrig.

In der Schweiz hätten die Volksabstimmungen dennoch zu einer höheren Identifikation mit dem Gemeinwesen geführt und damit zu einer größeren politischen Stabilität beigetragen. Anhaltspunkte, ein häufiges Abstimmen über alle möglichen Themen würde die Demokratie destabilisieren, lassen sich laut Studie keine finden. Dennoch neigt Merkel dazu, ein eher durchwachsenes Fazit zu ziehen. „Politik bewegt sich ja nicht in einem idealen Raum von schönen Zielen. Wenn man weiß, daß immer nur die besser Gebildeten, die Mittelschichten teilnehmen, die sowieso in den Institutionen überrepräsentiert sind, dann muß man diesen Trend nicht auch noch durch Volksentscheide verstärken“, sagte er im Gespräch mit der Zeit.

Als äußerst problematisch sieht die WZB-Studie die Tatsache, daß es sehr schwierig sei, ein geeignetes Mindestquorum bei der Beteiligung zu finden. Setze man es zu hoch an, könnten nur wenige Volksabstimmungen Aussicht auf Geltung erreichen. Würde es zu niedrig angesetzt, gerate man in eine Legitimitätsfalle: „Dann werden Abstimmungsergebnisse zu Gesetzen, die eventuell von weniger als 25 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung gebilligt wurden. Hinter solchen Gesetzen stehen viel geringere Teilmengen des Volkes als in der repräsentativen Demokratie.“ Somit bestünde die Gefahr, „daß kleine, gut organisierte Minderheiten“ erheblichen Einfluß auf die politische Linie ausüben könnten.

Die Ebert-Stiftung spricht in diesem Zusammenhang explizit davon, „daß solche von rechtspopulistischen Minderheiten vorgetragenen Mehrheitsvorstellungen auch tyrannischen Charakter tragen könnten“.

Warum die Beteiligungen bei Volksabstimmungen und Direktwahlen teilweise dramatisch niedrig sind, darüber rätseln Politikwissenschaftler bis heute. Denn bei Meinungsumfragen findet sich mittlerweile eine klare Mehrheit für mehr Volksabstimmungen: Nur rund jeder fünfte Deutsche will laut einer Umfrage von Infratest dimap politische Entscheidungen auf Bundesebene den Bundestagsabgeordneten überlassen. Deutliche 76 Prozent der Bürger wünschen sich dagegen mehr direkte Beteiligung. Dennoch sind die Beteiligungen bei Bürgerentscheiden oder auch Kommunalwahlen traditionell eher gering.

In Berlin scheiterte vor einigen Monaten der Rückkauf der Stromnetze an der mangelnden Teilnahme. Zwar votierten 83 Prozent der Teilnehmer dafür. Dennoch mißlang der Volksentscheid. 25 Prozent der Wahlberechtigten hätten mit Ja stimmen müssen, am Ende waren es 24 Prozent. Nur rund ein Drittel der Berliner ging tatsächlich zur Wahl. Für WZB-Direktor Merkel keine wirkliche Überraschung: „Diejenigen, die zu Volksentscheiden gehen, sind ohnehin schon relativ politisch. Und die anderen erreicht man nicht. Die Fragen sind zu kompliziert oder stoßen auf Desinteresse. Ich bin davon überzeugt, daß viele Bürger die Folgen ihrer Entscheidung in einem solchen Volksentscheid nicht abschätzen können.“

Angst vor konservativen Ergebnissen

In der Regel seien es vor allem eher linksstehende Menschen, die sich für Volksentscheide einsetzen würden. Die Ergebnisse würden aber in aller Regel „eher konservativ“ ausfallen: „Es ist wie mehrfach gezeigt nicht das Volk, das in Referenden abstimmt, sondern es sind die Informierten und Bessersituierten der Gesellschaft. Diese bilden mehrheitlich eher nicht das klassische Wählerklientel der Linken.“

Merkel hält Volksbefragungen auf regionaler Ebene dennoch für sinnvoller als auf nationaler Ebene. Zu beklagen sei allerdings das „föderative Wirrwarr“. „Hier gelten andere Quoren als dort. Das ist problematisch. In Bayern können nicht andere demokratische Kriterien gelten als in Hamburg oder Berlin. Der Föderalismus kann das nicht legitimieren.“

Dem Wunsch der Bürger nach mehr Partizipation könne aber auch durch parteipolitische Einflußnahme Rechnung getragen werden. Das Mitgliedervotum der SPD zur Regierungsbeteiligung wird gern als positives Beispiel genommen. In der Bevölkerung sei dieses Instrument auf Wohlwollen gestoßen: Die Mehrheit der Deutschen fand es nach dem ARD-Deutschlandtrend richtig, daß alle SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag von Union und SPD entscheiden durften. Bei den SPD-Anhängern war die Zustimmung mit 73 Prozent noch größer.

Auf Kritik stieß die Tatsache, daß die SPD-Mitglieder im Endeffekt noch einmal über die Ergebnisse der Bundestagswahl abstimmen durften. 65 Prozent der Unionsanhänger fanden dies nicht in Ordnung. An dem SPD-Mitgliedervotum beteiligten sich knapp 65 Prozent der Genossen.

 

Die Schweiz – Vorbild in Sachen Direkte Demokratie

Die Schweiz gilt als Musterland der Direkten Demokratie. Seit der ersten Volksabstimmung im Juni 1848 kamen 583 weitere hinzu. Davon wurden 283 angenommen und 309 abgelehnt (Volksinitiativen mit einem direkten Gegenentwurf zählen zusammen als eine Volksabstimmung, aber als zwei Vorlagen). Thematisch sind die Initiativen breit gestreut. In der Dekade 2001–2010 lagen sozialpolitische Themen weit vor wirtschaftlichen. Damit eine Volksinitiative zustande kommt, braucht es innerhalb einer Sammelfrist von 18 Monaten die Unterschriften von 100.000 Stimmberechtigten. In der Regel sind die Eidgenossen viermal pro Jahr aufgerufen, über mehrere Vorlagen gleichzeitig zu befinden.

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