© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Bildungsbericht in loser Folge LVII: War das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Alphabetisierung des Westens, dann das 21. das der Analphabetisierung.

Ethnischer Brückenkopf I: „Hier wähle ich sozialdemokratisch oder auch mal grün“, sagt er, „aber in der Türkei gehört meine Stimme den Konservativen.“ (Ilhami Oguz, Deutschtürke, Anhänger Erdogans, Inhaber einer Werbeagentur in Hannover)

Die Nachricht, daß die DDR bis in die 1980er Jahre Akten unter Verschluß gehalten hat, die NS-Straftäter belasteten, kann nur denjenigen überraschen, der die Kontinuität im Handeln der antifaschistischen Schutzmacht verkennt: vom „großen Freund der kleinen Nazis“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der sich zügig um Resozialisierung ehemaliger Pgs kümmerte, wenn die nützlich waren (für den Betrieb der Reichsbahn, den Aufbau der Kasernierten Volkspolizei etc.), über die Unterstützung des westdeutschen Arms bei Kampagnen gegen die Entnazifizierung bis zur Deckung all derjenigen, die auf die richtige Seite gefunden hatten.

Auf den Kriminalitätsbericht wird reagiert wie auf den Wetterbericht: Machen kann man nichts, keiner ist schuld, sicherheitshalber nehme man einen Regenschirm.

Ein durchschnittlicher evangelischer Gottesdienst von heute ist die Parodie auf die Träume liberaler Protestanten vor hundert Jahren: keine Rede von Schuld, von Sühne, von Vergebung, von Gnade, von Wunder, von Auferstehung, kaum eine von Christus, allerdings an Stelle der deutschen Klassiker in Wort und Musik, die sich die Altvorderen wünschten, hat man nun einen ästhetischen Rahmen aus Selbstgemachtem und Gutgemeintem und Liedgut, das immer irgendwie an FDJ-Singebewegung erinnert.

Daß es so lange dauerte, bis die Polizei irgendwelche Vermutungen über den 29jährigen Attentäter preisgab, der im Jüdischen Museum Brüssels am Tag vor der Europawahl drei Menschen erschoß, hatte offenbar damit zu tun, daß sich partout kein rechtsradikaler Hintergrund zeigen wollte.

Das ewige Hin und Her der Berichterstattung nicht nur der Boulevardmedien über Monaco zeigt zumindest, daß die Kontrollierbarkeit des Nachrichtensektors heute schlechter läuft als vor hundert Jahren. Damals soll das Fürstentum die wichtigsten Pariser Blätter dafür bezahlt haben, zweierlei Meldungen aus den Zeitungen herauszuhalten: die über schlechtes Wetter an der Riviera und die über den Selbstmord ruinierter Spieler.

Es gibt Orte, die nach einer kurzen Phase weltgeschichtlicher Bedeutung fast ganz vergessen werden. Das gilt zum Beispiel für Hirsau. Im Mittelalter war der heute auf 2.400 Einwohner geschrumpfte Schwarzwaldort der wichtigste Stützpunkt der von Cluny ausgehenden Klosterreformbewegung in Deutschland. Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts entstand hier die größte romanische Kirche des Reiches. Von der Pracht ist kaum etwas geblieben, auch weil Hirsau während des Pfälzischen Erbfolgekrieges auf französischen Befehl niedergebrannt wurde. Der Zerstörung fielen die Klostergebäude zum Opfer. Allerdings haben sich eindrucksvolle Ruinen erhalten. Darunter der sogenannte „Eulenturm“. Der verweist mit dem umlaufenden Figurenfries an drei Seiten allerdings auf noch weiter zurückliegende Zeiten. Denn die Versuche, hier eine astronomische Interpretation zu versuchen oder von „Laienbrüdern“ als Zentralmotiv auszugehen, überzeugen viel weniger als die Annahme, daß in den eigenartigen Szenen Heidnisches ins Christliche ragt: Im Mittelpunkt steht jedesmal eine bärtige Figur, umgeben von verschiedenen Kreaturen. An den Ecken handelt es sich offenbar um Löwen, die auch in der christlichen Ikonographie eine wichtige Rolle spielten, aber dasselbe wird man kaum von den Ziegenböcken sagen können. Die traten bekanntermaßen als Begleiter des nordischen Gottes Thor auf, und das an einer Seite außerdem abgebildete Radkreuz legt den Vergleich mit den Motiven des sogenannten Gundestrup-Kessels nahe, eines kostbaren keltischen Relikts, auf dem auch ein bärtiger Mann mit diesem Symbol zu sehen war, der oft als Sonnen- oder Kriegsgottheit gedeutet wird.

Ethnischer Brückenkopf II: Der ehemalige Linksaußen, Europaabgeordnete der Grünen und Immer-noch-Sozialdemokrat Ozan Ceyhun berät nun die türkische Regierungspartei AKP und unterstützt sie wortstark in ihrem Kampf gegen seinen Ex-Freund Cem Özdemir.

Die Einlassungen des Bundespräsidenten zum Thema „Vielfalt“ sind einerseits deprimierend, andererseits symptomatisch für jenen Prozeß des Niedergangs, in dem das Amt begriffen ist, seitdem ein Mann von Format wie Karl Carstens es bekleidete.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 20. Juni in der JF-Ausgabe 26/14.

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