© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Verprügelt, verhungert, verdurstet
Verwahrlosung: Warum sich in unserer Gesellschaft immer wieder tragische Fälle von Kindstötungen und Mißhandlungen ereignen
Markus Brandstetter

Am Abend des 31. Oktober 2013, einem Donnerstag, gibt eine Frau im westfälischen Soest ihrer dreieinhalb Monate alten Tochter Fee-Marie das Fläschchen, wechselt dem Säugling noch einmal die Windeln, legt ihn dann ins Bett, deckt ihn aber nicht zu. Um 23.45 Uhr steigt die Mutter in den Zug und fährt zu einem Mann nach Münster. Dort kauft die Hartz-IV-Empfängerin für 300 Euro die Droge Speed und besucht dann die Halloween-Party in einer Diskothek, wo sie im Drogenrausch bis zum Sonntag durchfeiert.

Erst am Dienstag darauf, den 5. November, kehrt sie nach Soest zurück. Als sie ihre Wohnung betritt, ist das Baby tot – qualvoll verhungert und verdurstet, wie der Gerichtsmediziner später feststellen wird. Die Frau legt sich neben dem toten Kind schlafen, als wäre nichts geschehen. Am nächsten Tag meldet sie fröhlich auf Facebook, daß in Soest Kirmes ist, und fährt dann wieder mit dem Zug nach Münster, wo sie zwei Wochen bleibt. Die ganze Zeit über liegt das verwesende Kind in der Wohnung in Soest.

Zum Zeitpunkt des Todes von Fee-Marie betreut ein Fachdienst im Auftrag des Soester Jugendamtes Mutter und Kind seit acht Monaten. Sechs Stunden in der Woche wird die arbeitslose Mutter, die viel Zeit in Kneipen und auf Partys verbringt, vom Jugendamt zu Hause betreut; nur zwei Tage bevor die Mutter Fee-Marie dem sicheren Tod überläßt, ist eine Betreuerin zum letzten Mal bei Mutter und Kind.

Jugendamt will nichts gemerkt haben

Obwohl die Wohnung total zugemüllt ist und Fee-Marie schon seit Wochen nicht mehr richtig gefüttert und gewickelt wird, will das Jugendamt davon nichts gemerkt haben. Es vergehen vierzehn Tage, bis das Jugendamt endlich die Tür öffnen läßt, hinter der immer noch das tote Kind liegt. Diese Tragödie, die zur Zeit vor dem Arnsberger Landgericht verhandelt wird, setzt eine ganze Reihe von Fällen, in denen Jugendämter versagt haben, mit trauriger Logik fort.

2006 wird in Bremen die Leiche des zweieinhalb Jahre alten Kevin im Kühlschrank seines Vaters gefunden. Der Vater ist ein Junkie im Methadon-Programm, aus dem Gefängnis ausgebrochen, bedroht Nachbarn und Bekannte mit der Waffe, ist eventuell mitschuldig am Tod von Kevins Mutter. All das weiß das Jugendamt, ja die Behörde ist sogar Amtsvormund des Kindes – und tut trotzdem nichts.

2012 stirbt in Hamburg die elfjährige Chantal, weil sie das Methadon getrunken hatte, das für ihre vom Jugendamt ausgesuchte Pflegemutter bestimmt war.

Ebenfalls in Hamburg verprügeln Eltern 2013 ihre dreijährige Tochter Yagmur („Yaya“) so lange, bis sie an einem Milzriß stirbt. Obwohl das Mädchen seit der Geburt vom Jugendamt betreut wird, der bekanntermaßen gewalttätige Vater mit dem Gewehr auf Facebook posiert, das Kind zwischen einer Pflegefamilie und den eigenen Eltern hin- und her wechselt, ist dem Jugendamt bei diversen Hausbesuchen nichts aufgefallen. Als Yagmur am 18. Dezember 2013 stirbt, stellen die Ärzte bei der Obduktion mehr als achtzig Blutergüsse und Abschürfungen und einen nie behandelten Armbruch fest.

In Leipzig verdurstet 2012 der zwei Jahre alte Kieron-Marcel, als seine Mutter sich neben ihm mit einem Drogencocktail ins Jenseits spritzt. Auch hier ist die Mutter im staatlich geförderten Methadon-Programm, auch hier werden Mutter und Kind vom Jugendamt betreut, auch hier ist die vom Staat bezahlte Wohnung voller Müll und Unrat – und auch hier kann das Jugendamt nichts verbessern oder gar verhindern. Diese entsetzliche Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Eine Analyse dieser Fälle ergibt erstens, daß die Jugendämter offensichtlich nicht in der Lage sind, Mißhandlung, Mißbrauch und sogar Mord von Kindern zu verhindern, selbst wenn Eltern und Kinder intensiv betreut werden. Die Gründe dafür sind bekannt: Die Mitarbeiter der Jugendämter sind eben auch nicht mehr als Verwaltungsbeamte, sie betreuen viel zu viele Fälle und verlieren den Überblick, viele kennen „ihre“ Familien kaum, manche Mitarbeiter hegen privat Sympathien für Drogenfamilien und haben viel Nachsicht mit Kriminellen, und anderen ist das Schicksal ihrer Schützlinge schlichtweg egal.

Das nächste Problem liegt bei harten Drogen und ihrer Verharmlosung. In vielen Familien, in denen Kinder mißhandelt und umgebracht werden, spielen Drogen eine große Rolle, nicht wenige Eltern sind im staatlich finanzierten Methadon-Programm, was sie vom Heroin wegbringen soll, was aber oft nicht funktioniert. Methadon ist längst zu einer Ersatzdroge des schönen Scheins geworden, die Süchtige wieder halbwegs normal erscheinen läßt, an der Sucht selber jedoch nichts ändert.

Verständnis für die Umstände der Tat

Einer der wichtigsten Gründe für Kindesmißhandlungen und Kindermord ist jedoch die Einstellung unserer Gesellschaft zu Kindern ganz allgemein. Hätte die Soesterin ihre Katze so umgebracht, wie sie ihr Kind umgebracht hat, hätte es einen grenzenlosen öffentlichen Wutsturm gegeben. Bei einem Kind aber stellen vielleicht Nachbarn und Freunde ein paar Kerzen und selber gemalte Pappschilder auf, die Lokalpresse und Boulevardmedien berichten darüber, während viele (nicht alle) Journalisten großer meinungsführender Blätter, insbesondere aber Psychologen, Pädagogen und andere „Experten“, regelmäßig viel Verständnis für zumindest die Umstände der Tat zeigen.

So macht zum Beispiel die Zeit für den Tod von Yagmur weniger die Eltern als die übliche Melange aus sozial schwachem Stadtteil mit hoher Arbeitslosenzahl, niedrigen Einkommen und hohem Ausländeranteil verantwortlich. Als im aktuell tagenden Untersuchungsausschuß zum Fall Yagmur Mitarbeiter von Jugendamt und Familiengerichten haarsträubende Versäumnisse offenbaren, kann die Zeit darin lediglich erkennen, daß die Gefahr, welche die kleine Yagmur das Leben gekostet hat, „im System versickert“ sei.

Hinter diesem Verständnis steckt auch eine These, die – in den Hirnen von Philosophen geboren – seit Jahren durch Philosophenkongresse, Internet und Zeitungen geistert. Diese These besagt, daß ein Kleinkind zwar ein Mensch, aber keine Person ist, und deshalb noch nach der Geburt straflos getötet werden kann beziehungsweise dies möglich sein sollte.

Angezettelt hat diese Diskussion der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer, Professor für Bioethik an der Elite-Universität Princeton und weltweit eine der großen Nummern auf dem Gebiet der Ethik. In seinem Standardwerk „Practical Ethics“ (Cambridge University Press, New York 2011) schreibt er, daß ein Fötus nicht mehr wert sei als ein nichtmenschliches Lebewesen, weil er noch keine Person sei, kein Bewußtsein von sich selbst habe, keine rationalen Entscheidungen treffen und sich nicht selbst als ein in Raum und Zeit verortetes Wesen begreifen könne.

Diskussion um die Tötung Neugeborener

Deshalb könne, fährt Singer fort, ein Fötus auch nicht dieselben Rechte wie eine echte Person beanspruchen. Wenn aber ein Fötus keine Person ist und deshalb straffrei getötet werden kann, dann ist ein Neugeborenes auch keine Person und sollte deshalb ebenfalls bis zu einem bestimmten Zeitpunkt – Singer sagt nicht genau, bis wann – straffrei getötet werden können.

Natürlich ist Singer nicht direkt für den Tod von Kindern verantwortlich. Aber er und manche seiner Fachgenossen sind es, die das pseudophilosophische und zutiefst inhumane Hintergrundrauschen erzeugen, das sich bei Diskussionen um Abtreibung und Kindesmißhandlungen mit dem Zerfall der Kernfamilie zu einer unheilvollen Allianz verbindet. In einer postkapitalistischen Spaßgesellschaft, in der viele Erwachsene zeitlebens Teenager bleiben wollen, in der die Ethik der Verantwortung kleingeredet und die von der Biologie vorgegebenen Gesetze und Grenzen hauptsächlich dazu da sind, ausgetrickst zu werden, genießen Kinder keinen hohen Stellenwert mehr.

Hohe Dunkelziffer bei Kindesmißhandlungen

Nach offiziellen Statistiken werden in Deutschland pro Jahr 160 Kinder getötet und 60.000 mißhandelt. Die Dunkelziffer ist aber sehr hoch, weshalb Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité, von 320 getöteten Kindern im Jahr und von 200.000 Mißhandlungen ausgeht. Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es pro Jahr 240.000 Verkehrsunfälle mit Verletzten.

Diese Zahlen und das Versagen der Jugendämter bei Kindesmißhandlungen zeigen, daß Staat und Behörden nie die besseren Eltern sein können; daß die philosophisch unterfütterte Abwertung von Leib, Leben, Geburt und Empfängnis in tragischen Einzelfällen enorme und schädliche Auswirkungen haben kann; und daß die utilitaristische Spaß-Ethik, in der das ganze Leben auf den Wohlfühlfaktor reduziert wird, mitunter zu mörderischen Konsequenzen führt.

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