© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Auf dem Notlandeplatz Gottes
Erfolgsmodell aus Brasilien: Seit dreißig Jahren werden auf den „Bauernhöfen der Hoffnung“ Drogenabhängige durch Gebet und Arbeit therapiert
Jürgen Liminski

Michael Sauer war Bankräuber, der jüngste Bankräuber Deutschlands. Mit 15 Jahren raubte er die erste Filiale aus. „Ich war richtig gut“, sagt er mit bitter-ironischem Lächeln. Das ging fünf Jahre so. Zusammen mit seiner Freundin Anja leerte er im Saarland Bank um Bank. „Wir brauchten 8.000 Mark pro Tag für Heroin.“

Angefangen hatte es, als er 13 war. Er war arm und Realschüler, sie war reich und auf dem Gymnasium, ihr Vater Chirurg, ihre Mutter Kinderärztin. „Wir kannten uns schon lange, es war eine Sandkastenliebe. Man spürt, wenn man zusammengehört.“ Aber seine und auch ihre Familie lehnten diese Freundschaft ab, „sie wollten nicht, daß wir zusammenkamen, also trafen wir uns heimlich“. Sie brachte von ihrer Schule Haschisch mit, das rauchten sie gemeinsam. Dann brachte sie ein halbes Jahr später auch Heroin. „Als wir das gezogen haben, wußten wir: Das ist fürs Leben, das ist wie die erste Liebe.“

„Hier fragen sie nicht nach Lohn und Gegenleistung“

Was Liebe ist, lernte Michael erst auf dem Bauernhof der Hoffnung kennen, viele Jahre und noch mehr Tiefen des Lebens später. Dazwischen lagen zwölf Jahre Gefängnis für ihn, achteinhalb für Anja. Auch im Gefängnis blieb er süchtig. „Im Knast bekommst du alles, was du brauchst. Mein Zellennachbar war Dealer, ein Araber, der hatte sauberes, 80prozentiges Heroin, heute sind es nur noch fünf Prozent, der Rest ist Chemie und Rattengift.“ Anja wurde im Gefängnis clean. Als Michael rauskam, ging es von vorne los. „Man muß wirklich aufhören wollen, zu 100 Prozent. 99 Prozent reichen nicht“, sagt der heute 50jährige und blickt in sich zurück. Die Eltern wollten nichts mehr von ihnen wissen, der Richter meinte bei seiner Freilassung: „Wir reservieren die Zelle.“ Nach zwölf Jahren, sagt Michael, „hast du draußen keine Chance“.

Sie bekamen ein Kind, und dann kam die Überdosis. Beide fielen ins Koma. Drei Minuten Herzstillstand bei ihm, sechs Minuten bei ihr. Sie war hirntot, er wachte nach drei Wochen auf. Täglich ging er zu ihr, blickte, redete sie an. Sie blieb regungslos. Nach fünf Monaten stimmte er zu, die Stecker wurden gezogen. „Es war eine furchtbare Entscheidung. Sie war mein Leben“, sagt er leise. Die Tochter kam zur Großmutter, der Kinderärztin. Er stürzte ab, landete auf der Straße, in der Gosse. „Ich nahm alles, was ich kriegen konnte.“ Die Leber setzte aus, der Körper wurde gelb, die Stichwunden von den Spritzen verheilten nicht mehr, „kein Krankenhaus wollte mich nehmen. Keine Therapie hatte Platz“.

Irgendwie landete er auf Gut Neuhof, dem Bauernhof der Hoffnung bei Berlin. „Ich weiß nicht mehr, wie der gute Engel hieß, der mich da hinbrachte, ich weiß nur noch: Ich ging da hin, um zu sterben.“ Michael erinnert sich: „Ich wog noch 35 Kilo, die offenen Wunden eiterten und da war eine Schwester Delma aus Brasilien. Die wusch die Wunden und verband sie. Sie sah mich immer freundlich an und sprach nie von Gott. Aber durch sie weiß ich, was Liebe ist.“

Auf Gut Neuhof arbeiten sie alle, sagt Michael. „Auch ich wollte arbeiten und tat es auch. Anfangs brauchte ich für hundert Meter Schubkarreschieben einen ganzen Tag.“ Nach vier Monaten Pflege gingen die Wunden zu, die Leber arbeitete wieder, er wog jetzt knappe 60 Kilo. „Dann stellte ich mir Fragen. Als Bandit war ich jemand, im Gefängnis hatte ich Ansehen; fünf Jahre Banken ausrauben, ohne entdeckt zu werden, das galt als eine Leistung. Auf dem Gut aber hatte ich Ansehen ohne Leistung. Das verstand ich nicht. Auch wie die leben: bescheiden, arbeitsam, alles teilend, und doch hat jeder seinen inneren Schatz. Das sind Menschen mit einer Beziehung zu Gott, Menschen, die beten.“

Wie Schiffbrüchige auf einer Insel gelandet

Michael betete nicht. Aber nach einem Jahr wußte er: „Ich will nicht nur drogenfrei leben, ich will lieben.“ Er ging auf einen anderen Bauernhof nach Brasilien, lernte die Sprache, auch die Sprache der Liebe. Was das denn sei, frage ich ihn. „Das, was die da machen. Sie teilen, sie nehmen Rücksicht, sie fragen nicht nach Lohn oder Gegenleistung, sondern ob sie dir helfen können, ob du alles hast, was du brauchst, ob sie etwas tun können für dich.“ Dabei strahlten sie einen Frieden aus, „der von Herzen kommt. Du spürst: Die wollen dir Gutes, nicht dein Gutes.“ Jemandem Gutes wollen – das ist genau die Definition der Liebe des Thomas von Aquin. Michael weiß das nicht, er spürt es.

Wir sitzen in einer Freihalle im Hof Pedrinhas nahe der Stadt Guaratingueta, etwa 180 Kilometer südlich von Sao Paolo. Pedrinhas war die erste Fazenda da esperanza, die erste Farm der Hoffnung. Sie ist heute auch die größte, dort leben 143 Jugendliche. Sie arbeiten auf dem Feld, betreiben Viehzucht mit Rindern, Hühnern, Enten, Ziegen. Gegründet wurde Pedrinhas vor dreißig Jahren, das Jubiläum war im November Anlaß für ein großes Treffen aller Höfe, mittlerweile sind es 93 in 13 Ländern. In Europa unterhält die junge Bewegung zehn Höfe, fünf davon in Deutschland – ein sechster Hof wird in diesem Jahr gegründet.

Mehr als 30.000 meist junge Männer und über zehntausend junge Frauen haben die 93 Höfe geheilt verlassen. Die Rückfallquote liegt bei 16 bis 20 Prozent, festgestellt von unabhängigen Wissenschaftlern, zum Beispiel der Uni Köln. Bei normalen, gängigen Entzugstherapien beträgt die Rückfallquote weit über neunzig Prozent. Einer der zwei Gründer der Fazendas, der Franziskanerpater Hans Stapel, erklärt das so: „Wir versuchen zu heilen, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Und wirklich heilen tut nur die Liebe.“

Die Säulen des „Heilsplans“, des Konzepts der Höfe, seien einfach: „Keine Ersatzdrogen, keine Medikamente, keine Psychologen, kein Sex und kein Alkohol – dafür ein Jahr lang praktische Arbeit auf dem Feld, in Obstplantagen oder Fabriken und ein auf Gott ausgerichtetes Leben. All das abgeschieden von der Welt und in Gemeinschaft mit anderen Suchtkranken. Die Befreiung von der Droge ist zuerst Versöhnung mit sich selbst. Wer nicht mehr will, kann gehen. Die Tür ist immer auf.“

Die Nachfrage nach den Bauernhöfen steigt, vor allem seit Benedikt XVI. im Jahr 2006 die erste Farm besuchte. „Der Besuch des Papstes war wie ein Stempel“, sagt Hans Stapel. In Rom habe man seither auch verstanden, daß dies nicht eine Gründung für Drogenabhängige ist, sondern für alle Menschen, die die Hoffnung verloren haben. Eltern, Priester, Schwestern, ja die Gesellschaft ist heute oft so hoffnungslos, und deshalb sind die Fazendas moderne Wallfahrtsorte, wo wir Jesus und mit ihm die Hoffnung wieder unter uns finden.“ Dieser geistliche Anspruch ist es, warum eine päpstliche Stiftung wie „Kirche in Not“ die Fazendas finanziell unterstützt. Denn von den Produkten der Bauernhöfe allein können die jungen Leute nicht leben. Die Fazendas sind auf Spenden angewiesen.

Nicht immer sind es harte Drogen wie Heroin, die Menschen auf die Fazendas treiben. In Deutschland leiden fast alle Mädchen auf den Farmen unter Magersucht. Andreas D., im elften Monat auf Gut Neuhof, war internetsüchtig. Er ist jetzt auf der Suche nach Sinn. Auf jeden Fall will er das Jahr beenden. Niemand zwinge ihn dazu, man könne immer gehen, wenn man nicht mehr wolle. Aber die Freude und Zufriedenheit, mit der die Leiter der Höfe ihn und andere „schwierige Jungs“ behandeln, beeindruckt ihn. „Vielleicht ist das Liebe, weiß nicht“, sagt er, und „vielleicht finde ich auch das, was die Gott nennen“.

Michael fand es. Er blieb auf Gut Neuhof als Freiwilliger vier Jahre. „Es war die schönste Zeit in meinem Leben bis dahin.“ 2006 wurde er Verantwortlicher auf einer Fazenda in Brasilien, bei Fortaleza. Dort besorgte er auch die Einkäufe und dabei lernte er seine jetzige Frau, Anna Paula, kennen. Er erzählte ihr seine Geschichte: „Nur die Wahrheit zählt.“ Sie heirateten, zwei Jahre später wurde der kleine Cayo geboren. „Cayo wird erfahren, was ich nie gelernt habe: mit Gott aufwachsen, von Anfang an Liebe erleben.“ Michael ist jetzt als Vorarbeiter in einer Stahlfabrik für Büromöbel tätig. Dort leitet er auch einen Gebetskreis und sorgt dafür, daß Leute aus den Fazendas eine Arbeit finden. „Ich arbeite hart, manchmal zehn, elf Stunden am Tag, auch samstags. Wir haben ein Haus, ein Auto – alles von meiner Hand, von meiner Liebe, ohne Revolver.“

Michael sieht sich als Überlebenden. Seine Tochter ist zwei Monate vor ihrer Hochzeit tödlich verunglückt. Von den Bekannten und Gefängniskumpeln aus seinem früheren Leben ist keiner mehr am Leben. „Sie sind alle tot, Aids, Hepatitis, Überdosis.“ Den letzten habe er vor acht Jahren gesehen, ihm den Weg der Fazendas ausgemalt, aber er wollte nicht raus aus der Droge. Es sei nicht „so leicht, von sich wegzugehen. Man braucht die Hoffnung, daß man trotz allem lieben kann.“

Diese Hoffnung fand Annalia aus Argentinien in den Fazendas. Jahrelang war sie von ihrem Stiefvater mißbraucht worden, die Mutter schaute einfach weg und wollte es nicht wahrhaben. Selbst als sie ein Kind von „dieser Person“ bekam. Sie nennt den Namen nicht, es wäre eine Nähe, die schmerzt. Damals war sie achtzehn. Die Mutter wollte, daß sie abtreibe, aber sie konnte nicht. Sie nahmen ihr alles weg, schlugen sie, sperrten sie ein. Ezechiel wurde geboren, Mutter und Stiefvater verbreiteten die Lüge, der Vater sei unbekannt, Ezechiel die Frucht eines Abenteuers. Es ist nicht ungewöhnlich in der Heimat Annalias, in Argentinien und überhaupt in Lateinamerika, daß Kinder ihren wahren Vater nie kennenlernen.

Auch Annalia kennt ihren wahren Vater nicht. Vater war für sie gleichbedeutend mit Angst und Schrecken. Sie konnte nicht mehr essen, wurde magersüchtig und depressiv. Dann, nach sieben weiteren Jahren des Martyriums, wurde sie wieder schwanger. Damals kam ihr Bruder, der drogensüchtig war, von einer Fazenda zurück und half ihr zu fliehen. In der Fazenda von Cordoba fand sie Zuflucht. Die Jungs brachten sie zu einem befreundeten Ehepaar. Das nahm sie auf und sorgte für sie, als die Wehen einsetzten brachten die Jungs sie ins Krankenhaus. Als die Hebamme aus dem Kreißsaal kam und fragte, wer der Vater sei, sagten sie: „Wir sind alle Onkels.“ Das habe ihr „irgendwie die Tür zu Gott“ wieder aufgestoßen. „Ich konnte das Wort Vater ja nicht mehr hören.“ Der zweite Sohn heißt Jeremias und ist der Liebling der Fazenda.

Annalia hatte mehrere Selbstmordversuche hinter sich, als sie nach Cordoba kam. Selbst dort lebte sie anfangs in der Versuchung der Verzweiflung. Die Onkels und das Ehepaar gaben ihr neue Hoffnung. In den Fazendas hat Annalia andere Frauen getroffen, auch mit Kindern ohne Vater, auch mißbraucht und nicht selten zur Prostitution gezwungen.

Wie Schiffbrüchige landen sie auf diesen Inseln der Hoffnung. Einige bleiben in den Fazendas, übernehmen dort Leitungsaufgaben. Sie sind Beispiele, daß die Hoffnung lebt, daß das Wort von der Erlösung Fleisch werden kann, auch heute. Die meisten gehen nach ihrer Heilung zurück in den Alltag ihrer Städte und Dörfer – und sind dort Beispiele der heilenden Kraft der Liebe.

 

Bauernhöfe der Hoffnung

Der erste „Bauernhof der Hoffnung“ („Fazenda da Esperança“) wurde 1979 auf Initiative des deutschen Franziskanerpaters Hans Stapel in Brasilien gegründet. Mittlerweile gibt es weltweit über dreißig solcher Einrichtungen, seit 1998 auch auf Gut Neuhof bei Berlin, wo 40 junge Menschen betreut werden. Zwei weitere Höfe gibt es im niederrheinischen Xanten sowie im Ostallgäu. Hier werden keine Medikamente zur Therapie verabreicht, sondern das Konzept beruht auf einem streng geregelten Tagesablauf aus Arbeit, Gebet und Gemeinschaftsleben. Die Bewohner werden nicht als Kranke, sondern als „liebesbedürftige Menschen“ aufgenommen, so Pater Stapel. Acht Stunden tägliche Arbeit und das Gefühl, gebraucht zu werden, helfe den meisten bereits aus der Abhängigkeit der Suchtmittel. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Feldarbeit oder Tierhaltung. In Brasilien gehört eine kleine Fabrik für Tiefkühllebensmittel zu einer Fazenda. Unterstützt werden die Bauernhöfe der Hoffnung unter anderem vom Hilfswerk Kirche in Not.

www.kirche-in-not.de 

Foto: Glaube, Liebe, Hoffnung als Heilsplan: Ordensschwestern und Bewohner am Rande der Fazenda in Guaratingueta (l.); der ehemalige Bankräuber und geheilte Suchtkranke Michael Sauer (r.)

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