© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Land der untergehenden Sonne
Japan: Politik und Gesellschaft finden keine Mittel gegen den dramatischen Bevölkerungsrückgang
Albrecht Rothacher

Erfolgsmeldungen klingen anders. Anfang Juni verkündete Japans Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt der Presse die nüchternen Zahlen. Zwar sei die Fertilitätsrate, also die Zahl der Geburten pro Frau im Jahr 2013 um 0,02 Prozentpunkte gestiegen. Doch der hauchdünne Anstieg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit knapp 1.030.000 Neugeborenen ein noch nie gemessener Tiefstand verzeichnet wurde. Dem nicht genug, ließ das Ministerium laut Japan Today verlauten, daß im vergangenen Jahr genau 1.268.432 „Individuen“ Japan verlassen hätten. Die höchste Anzahl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Aufgeputzte Kleinhunde im Kinderwagen

Wer durch die Wohnviertel Tokios spaziert, könnte sich beim ersten Eindruck über viele Kinderwagen freuen, die von jungen Frauen und alten Damen die Gehwege entlanggeschoben werden. Beim näheren Hinschauen liegen nicht von Säuglingen darin, sondern possierlich aufgeputzte Kleinhunde, denen man das beschwerliche Gehen abnehmen will.

Tatsächlich ist dieser dekadente Aufwand symptomatisch für eine sterbende Nation. War zunächst die sich verringernde Geburtenzahl durch die sich erfreulich verlängernde Lebenserwartung der Alten aufgefangen worden, so nimmt seit drei Jahren die Bevölkerung Japans um 300.000 Menschen jährlich ab, der Größe einer mittleren Großstadt entsprechend. Nach Angaben des statistischen Amtes wird die Zahl der Japaner – falls die Fruchtbarkeitsrate nicht erheblich steigt – in den nächsten fünf Jahrzehnten von 117,5 Millionen 2012 auf 87 Millionen 2060 drastisch sinken. Laut Prognosen wird Geburtenzahl pro Frau in diesem Jahr voraussichtlich auf 1,39 Prozent fallen, bevor sie bis zum Jahr 2024 auf 1,33 absinkt.

Die Überalterung und Entvölkerung ist mittlerweile nicht mehr zu übersehen. In kleineren Provinzstädten sind zur besten Geschäftszeit gut die Hälfte der Läden geschlossen. Unterwegs sieht man fast nur noch Ältere mit Gehhilfen oder im Rollstuhl. Gut ein Zehntel aller Bauernhöfe wird mangels Nachfolger oder Pächter nicht mehr bewirtschaftet. Die einstens prachtvollen Reisfelder liegen brach und verunkrauten.

Die Holzwirtschaft darbt. Es gibt keine Forstarbeiter mehr, die sich die Knochenarbeit in den steilen Bergwäldern antun wollen oder können. Fünfzehn Prozent aller Häuser und Wohnungen stehen leer, auch wegen des Baubooms für Zweitwohnungen in den Jahren der Blasenwirtschaft. Da sie meist aus Preßholz zusammengezimmert wurden, ist mit ihnen kein Staat mehr zu machen. Entlang der Regionalstraßen reihen sich endlos verlassene Straßencafés, leere Geschäfte, Pachinko-Hallen und Hotels ohne Betreiber. Wegen hoher Steuern, Arbeits-, Energie- und Transportkosten, aber auch wegen der stagnierenden Binnennachfrage wandert die Industrie ins Ausland ab, früher meist nach China, jetzt vermehrt nach Südostasien. Verrostende Fabrikruinen bleiben zurück.

Die Japaner sind fleißig und ihre Renten niedrig. So arbeiten die meisten auch nach der formalen Pensionierung mit wesentlich niedrigeren Löhnen weiter. Auf Baustellen schleppen alte Männer noch Zementsäcke und Stahlträger. In Supermärkten sitzen Großmütter an der Kasse oder bemannen die flinken Putzkolonnen, die die Züge blitzsauber halten.

Tokio wird im Jahr 2020 die Olympischen Spiele ausrichten. Die umfangreichen milliardenschweren Stadien- und Infrastrukturbauten können von den ehrenwehrten Senioren nicht mehr gestemmt werden. Deshalb schreit die Bauindustrie nach Gastarbeitern, die klaglos kräftiger zupacken können. Das ist ein Tabubruch.

Gastarbeiter ja, Einwanderer nein

Bislang durften nur hochqualifizierte Ausländer ins Land: Manager, Hochschullehrer, Ärzte, Fußballtrainer, sowie Pflegekräfte aus den Philippinen und Thailand für schlecht bezahlte Jobs in Altersheimen und Krankenhäusern. Die Arbeitsgenehmigungen für „Unterhaltungszwecke“ in den Rotlichtvierteln wurden vor einigen Jahren aus Gründen der Politischen Korrektheit abgeschafft.

Als erste Maßnahme gegen den wachsenden Arbeitskräftemangels in der Provinz erhöhte die Regierung die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für „Praktikanten“ von zwei auf fünf Jahre. Es handelt sich um einige hunderttausend Chinesen, Indonesier und Philippinos, die in Kleinbetrieben der Fischverarbeitung, in Restaurants, auf Baustellen und in Handwerksbetrieben zum Mindestlohn arbeiten und danach wieder ausreisen müssen.

Auch die Bauindustrie fordert nur Gastarbeiter, keine Immigranten, mit denen die japanische Gesellschaft, die in den Großstädten sehr beengt und diszipliniert zusammenwohnt, große Probleme hätte. Als mahnendes Beispiel gilt die schwierige Wiedereingliederung von Japanern der dritten Generation, deren Vorväter in den 1930er Jahren nach Lateinamerika ausgewandert waren. Den Einheimischen waren sie zu fremd, zu faul und zu laut.

In sämtlichen Umfragen lehnt die Bevölkerung eine Masseneinwanderung massiv ab. Die europäischen und US-amerikanischen Erfahrungen gelten als abschreckendes Beispiel. Als Regierungspartei vertritt die konservative LDP die gleiche Meinung. Doch ist sie gleichzeitig der mächtigen Bauindustrie zu Willen.

Die Lösung des Dilemmas wären höhere Geburtenraten, die sich politischen Appellen und finanziellen Anreizen bislang jedoch hartnäckig entziehen. Japaner sind allgemein sehr kinderlieb. Sie tun alles für die lieben Kleinen. Kinderaufzucht hat für japanische Frauen Verpflichtungscharakter und ist zudem sehr aufwendig und teuer: vom Geigenunterricht im Kindergartenalter bis zur erstrebten Aufnahme in überteuerte Eliteuniversitäten.

Wieviel leichter ist es daher, sich die Mühsal gar nicht erst anzutun, zumal sich der Ehegatte wegen langer Überstunden um den Nachwuchs so gut wie nicht kümmert. Entsprechend beläßt es die Mehrheit der Ehepaare bei einem Kind. Damit wächst eine Generation verwöhnter und selbstbezogener Einzelkinder heran – oft wenig sozialfähig und ich-schwach.

Karriere und Familie passen nicht zusammen, denn japanische Firmen versetzen ihr potentielles Führungspersonal gern nach Samuraiart ohne Vorwarnung in fernste Provinzen und Länder. Die offizielle Antwort der Regierung ist – nicht zum ersten Mal –, die Mehrkinderfamilie zu propagieren und mehr Kinderkrippenplätze bauen zu lassen. Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Sozialer Status steht Heirat entgegen

70 Prozent der explodierenden sozialpolitischen Ausgaben werden für Pensionen, Pflege und Gesundheitsversorgung der älteren Generation – eine verläßliche Wählerklientel – verwandt, und nur drei Prozent für Kindergeld und die Kinderbetreuung. Ledige Mütter werden gesellschaftlich massiv diskriminiert. Sie haben auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen und gehören zur Gruppe mit dem höchsten Armutsrisiko. Die Abtreibungspraxis ist liberal. Würde man jene 200.000 Abtreibungen gesunder Föten im Jahr stoppen, wäre Japans demographisches Problem größtenteils gelöst. Die Frauenärzte und Abtreibungskliniken sind jedoch eine machtvolle Lobby, mit der sich die LDP nicht anlegen will.

Entscheidender für die geringe Gebärfreude ist die fatale Neigung junger Frauen, überhaupt nicht mehr heiraten zu wollen, oder angesichts ihrer höheren Bildung und Herkunft zu anspruchsvoll in der Partnerwahl zu sein. Weltweit gilt, daß junge Frauen in der Regel niemanden heiraten, der ein niedrigeres Bildungsniveau als sie selbst oder einen niedrigeren sozialen Status als ihr Vater hat. Der Arzt mag eine Krankenschwester heiraten, die Ärztin jedoch nie den Krankenpfleger. So auch in Japan.

Mit dem Wegfall vieler Angestellten- und Facharbeiterlaufbahnen haben in Japan die prekären Teilarbeitsbeschäftigungen im Dienstleistungssektor massiv zugenommen. Sie umfassen bereits 40 Prozent aller Stellen für Jungarbeitnehmer. Diese wohnen weiter bei ihren Eltern und sind auf dem Heiratsmarkt als Männer nicht vermittelbar.

Foto: Selbst die Ein-Kind-Familie ist in Nippon schon eine Seltenheit: Karriere und Familie passen in der japanischen Arbeitswelt nicht zusammen

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