© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Utopie am Zuckerhut
Brasilien: Zwischen Rasse und Klasse – das Selbstbild einer harmonischen multirassischen Gesellschaft ist lediglich eine Vision
Stefan Michels

Der Papst mag Argentinier sein, aber Gott ist Brasilianer“, erklärte die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff nach der Wahl von Franziskus I. mit einem zwinkernden Auge. Das am Zuckerhut geläufige Sujet von der Auserwähltheit des brasilianischen Volkes speist sich traditionell aus dem Bewußtsein, zwar arm, aber um so reicher an Lebensgefühl zu sein. Die längste Zeit schien das Land am Amazonas dazu verdammt zu sein, sein riesiges Potential ungenutzt zu lassen.

Wie das übrige Lateinamerika litt die ehemalige portugiesische Kolonie an einer chronischen Mischung aus politischer Instabilität, sozialen Konflikten und schwachen staatlichen Institutionen. Brasilien, das war das ewige Land der Zukunft, zu beschäftigt mit der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Rückständigkeit, um seinen Platz in der Weltgemeinschaft einnehmen zu können.

Prekäre Situation der Unterschicht

All die Mühen und Enttäuschungen waren vergessen, als Rio de Janeiro 2009 den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2016 erhielt und Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva stolz in den Kopenhagener Abend ausrief: „Jahrhundertelang haben wir nur darüber geredet, was wir nicht können. Wir waren eine Kolonie. Wir glaubten, wir seien zweitklassige Menschen. Jetzt sind wir selbstbewußt und sprengen unsere Grenzen!“

Bereits zwei Jahre zuvor war es Lula da Silva gelungen, auch die Austragung der aktuellen Fußballweltmeisterschaft an Land zu ziehen. Damit stieg Brasilien in die exklusive Riege der Staaten auf, die die beiden größten Sportveranstaltungen der Welt direkt hintereinander ausgerichtet haben – ein internationaler Vertrauensvorschuß für eine Organisationsleistung, die nicht unterschätzt werden darf.

Gemessen am Bruttoinlandsprodukt gehört Brasilien mittlerweile zu den zehn größten Volkswirtschaften. Den neuen ökonomischen Status des Landes unterstreichen die Mitgliedschaften in der BRIC-Gruppe, einem Interessenzusammenschluß mit den besonders großen und bevölkerungsreichen Schwellenländern Rußland, Indien und China, sowie in der G20, wo Brasilien mit den westlichen Industrieländern auf Augenhöhe konferiert. Weit ernüchternder fällt allerdings der Blick auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aus, das über den durchschnittlichen Wohlstand Auskunft gibt; hier rangiert Brasilien nicht einmal unter den ersten hundert Staaten und liegt noch hinter Krisenstaaten wie Iran oder Venezuela.

Die prekäre Situation der Unterschicht entlud sich während des letztjährigen Konföderationen-Pokals, dem Vorbereitungsturnier der Fifa auf die Fußballweltmeisterschaft, in den größten Massenprotesten seit zwei Jahrzehnten. Eine an sich geringfügige Erhöhung der Fahrpreise im Nahverkehr war der Anlaß, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Demonstranten beklagten die hohen Baukosten für die WM-Austragungsstätten und forderten statt dessen Investitionen in die dringend benötigte Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur. Laut Angaben der Weltbank zählte Brasilien im Jahr 2009 zu den Ländern, in denen die höchste Ungleichheit bei der Einkommensverteilung herrschte. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung vereinigten 43 Prozent des Nationaleinkommens auf sich. Dabei spielte die Hautfarbe oder Rasse, in Brasilien cor oder raça genannt, eine große Rolle.

Ideologie einer rasseblinden Nation

Der US-amerikanische Soziologe Edward Telles untersuchte 1996 die Einkommensverteilung der Brasilianer nach Weißen einerseits sowie Farbigen und Schwarzen andererseits. Er kam zum Schluß, daß das Einkommensniveau der Weißen wesentlich höher war als das der Nichtweißen.

Am obersten Ende der Einkommenspyramide befanden sich 7,5 Prozent der Weißen, aber nur 1,5 Prozent der Nichtweißen. Zu den 40 Prozent der ärmsten Brasilianer gehörten 52 Prozent der Nichtweißen, aber nur 29 Prozent der Weißen. Insgesamt war die Einkommensverteilung in Brasilien ungleicher als in den Vereinigten Staaten, aber ausgeglichener als in Südafrika.

Wie in Westeuropa und den USA hat der Anteil der Weißen an der Gesamtbevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten in Brasilien stetig abgenommen. Er sank von knapp zwei Drittel (64 Prozent) im Jahr 1940 auf etwas unter die Hälfte 2010 (47 Prozent).

Im Unterschied zu den USA hängt in der brasilianischen Praxis die rassische Zugehörigkeit nicht von der Herkunft, sondern in erster Linie vom äußeren Erscheinungsbild ab. Dazu zählen neben der Hautpigmentierung auch die Haarfarbe und der Haartyp, Augenfarbe und Gesichtsmerkmale wie die Form der Nase oder Lippen.

Die Konzentration auf den Phänotyp kann bedeuten, daß leibliche Geschwister sich unterschiedlich einordnen, je nachdem wie sie ihr Gesamterscheinungsbild subjektiv einschätzen. Allgemein ist es sinnvoller, in der brasilianischen Bevölkerung von einem Farbkontinuum als scharfen Gruppenunterschieden auszugehen.

Der offizielle Zensus erfragt jedoch nur fünf Kategorien: weiß, braun, schwarz, gelb und indigen. Die Vielfalt der Hautschattierungen schlägt sich gerade in der zweiten Kategorie in einer komplexen Nomenklatura nieder, die den äußerst unterschiedlichen Charakter der brasilianischen Bevölkerung widerspiegelt.

Zu den Vorfahren der Brasilianer zählen mehrere Millionen Schwarzafrikaner, die bis zur Abschaffung der Sklaverei 1888 nach Brasilien verschleppt wurden – ein Mehrfaches der Zahl, die auf die Baumwollfelder der US-Südstaaten gebracht wurden. Nicht zuletzt mit der Absicht, die brasilianische Bevölkerung ‘aufzuhellen’, setzte sich die Regierung danach aktiv für die Einwanderung der etwa sechs Millionen Europäer ein, die den Grundstock der weißen Bevölkerungsgruppe bilden.

Ab dem Jahr 1930 gewann die Nationalideologie der rassischen Demokratie (democracia racial) an Boden, nach der Brasilien ein rassenblindes Land sei, das keinerlei gesellschaftliche Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe praktiziere. Die Regierung propagierte mestizaje, die Rassenmischung, als das nationale Leitbild.

Dieses Selbstbild einer Gesellschaft ohne Rassenkonflikte gerät jedoch inzwischen unter Druck der aus dem US-amerikanischen Raum vordringenden Idee einer „positiven Diskriminierung“, der zufolge in Brasilien die soziale Durchlässigkeit für Nichtweiße zu gering sei und durch Quotenregelungen zugunsten von Farbigen und Schwarzen sichergestellt werden müsse. Im Unterschied zu den USA, wo affirmative action häufig zum Zankapfel widerstreitender ethnischer Partikularinteressen gerät, scheint die Umsetzung des Konzepts in Brasilien jedoch mit weniger Eifer betrieben zu werden. Ob auf diesem Weg eine vertikale Öffnung der Gesellschaft oder vielmehr die Zementierung von Gruppenegoismen gefördert wird, bleibt offen.

Segregation im Wohnbereich steht hoch im Kurs

Der fortgesetzte Einfluß der Rasse läßt sich laut Telles auch auf dem Heiratsmarkt beobachten. Hier bildet die Hautfarbe eine wertvolle Tauschware, die mit Geld- und Statusgewinnen verrechnet wird. Zwar geht jeder fünfte Weiße inzwischen die Ehe mit Nichtweißen ein – eine Zahl weit höher als in den USA –, aber in den meisten Fällen beschränkt sich der Sprung über die Rassengrenze auf Verbindungen mit der phänotypisch sehr unterschiedlichen Gruppe der Farbigen.

Überdies scheint die Verfügbarkeit ein wichtiger Faktor bei der Partnerwahl zu sein: In den Landesteilen und sozialen Schichten, wo Weiße zahlreich vertreten sind, sind Mischehen eher selten. Insbesondere schwarze Frauen müssen erleben, daß hellere Haut auf dem Partnermarkt klar bevorzugt wird – von allen Gruppen.

Ein anderes soziales Phänomen ist die relative Segregation der Wohngebiete. Nach der rassenblinden Interpretation handelt es sich dabei nicht um Rassentrennung, sondern Klassentrennung. Arme Viertel seien meist von Farbigen und Schwarzen bewohnt, weil Nichtweiße hauptsächlich die Unterschicht ausmachten, wohingegen in Mittelstandsvierteln meist deswegen Weiße lebten, weil sie überwiegend die Mittelschicht bildeten.

Dagegen beobachtete Telles Farbunterschiede zwischen armen Nachbarvierteln, die nahelegen, daß die Klassenzugehörigkeit alleine nicht die räumliche Trennung erklären kann. Er folgerte, daß neben der finanziellen Komponente auch das Verlangen nach Absonderung von den anderen Rassen aktiv zur Segregation beiträgt. Insgesamt nahm der Wunsch nach Segregation mit steigendem Einkommen fast überall zu.

Foto: Besucher auf dem Corcovado, dem Standort der Christus-Statue, blicken in Richtung Zuckerhut: Von oben bietet Rio ein einheitliches Bild, doch unten teilen sich die Klassen

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