© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Der Flaneur
Betrunkener cooler Typ
Paul Leonhard

Du brauchst die Tür nicht aufhalten.“ Der Mann mit den Krücken zwängt sich durch die Glastür der S-Bahn und wirft sich auf den ersten freien Platz. „Mach ma auf“, sagt der Mann und drückt dem Jungen eine Flasche Bier in die Hand. Der schüttelt den Kopf. Er habe keinen Öffner. Der andere Junge hat auch keinen. „Was seid ihr bloß für Kerle“, rüffelt der Mann und kramt in seinen Taschen.

Der Schaffner kommt. „Halt doch mal das Bier, damit ich den Fahrschein suchen kann.“

„Prost.“ Er setzt die Flasche an, trinkt. Dann wendet er sich erneut den 14 bis 16 Jahre alten Jungen zu. „Wo kommt ihr her?“ Der Ältere nuschelt etwas. Aber der Fragesteller wiederholt die Antwort. „Aus der Neustadt, ein schönes Viertel, was macht ihr denn da?“ Wieder wird geantwortet. Der etwa 50jährige, Typ gesprächiger Sachse, sieht mit seinem Igelschnitt, Dreitagebart, Ohrring und den Krücken zwar schräg aus, hat aber höflich gefragt. So erfährt der halbe S-Bahn-Wagen, daß die beiden Brüder sind, zu einem Abend der Jungen Gemeinde waren, in einem Dorf bei Dresden wohnen und auch die Erlaubnis der Eltern haben, lange in der Stadt zu sein. Immerhin ist es kurz vor 22 Uhr.

Auch der Mann berichtet. Von guten, alten Zeiten. Als die Äußere Neustadt noch ein graues Arbeiterquartier war. Im Krieg eines der wenigen Viertel, das nicht durch Bomben zerstört wurde. „Deswegen die vielen alten Häuser.“

Der Schaffner kommt. „Halt doch mal das Bier, damit ich den Fahrschein suchen kann“, sagt er zu dem Uniformierten. Der Mann solle gefälligst die Flasche auf das Tischchen am Fenster stellen. „Und wenn der Zug anruckt, fällt sie runter.“ Der Schaffner schnarrt: „Unser Zug ruckt nicht an.“ Einer der Jungen nimmt die Flasche.

„Vom Dorf seid ihr also.“ Da sei es bestimmt schön ruhig. „Da könnte ich nicht leben, ich brauche Hektik.“ Die stellt sich prompt ein. Seine Haltestelle kommt. Der Fragesteller wuchtet sich hoch, nimmt die Krücken, die Bierflasche. „Gute Fahrt euch noch“, winkt er einen Abschiedsgruß, während er sich durch die Glastür fädelt. Die Jungen blicken sich an. „Cool, der Typ“, sagt der Jüngere. Sein Bruder winkt ab: „Nein, nur betrunken.“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen