© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

„Wir wollen keinen richtigen Krieg“
Ukraine: Der Sezessionskonflikt fordert hohen Blutzoll – 320 Tote  / Präsident Poroschenko geht auf die Separatisten zu
Billy Six

Erst kurze Zeit im Amt, ist der neue ukrainische Präsident Petro Poroschenko den Separatisten des östlichen Landesteils bereits sichtbar entgegengekommen – Amnestieangebote, Fluchtkorridor, Waffenstillstand. Selbst ein persönlicher Besuch und Vorschläge zur wirtschaftlichen Dezentralisierung seien im Gespräch, hieß es in Kiew.

Doch die Friedensdividende ist ausgeblieben. Beim Abschuß einer Transportmaschine während des Landeanflugs auf Lugansk starben 40 Soldaten und neun Besatzungsmitglieder unweit der Grenze zu Rußland. Der bisher blutigste Tag seit Beginn des Aufstands im April – verursacht durch eine Boden-Luft-Rakete oder großkalibrige Maschinengewehre der Rebellen. Auf insgesamt 320 Tote bezifferten deutsche Medien die Opferzahlen des Sezessionskonflikts am vergangenen Wochenende.

Die Schockwellen haben die Hauptstadt schnell erreicht: Rund 300 Menschen protestierten vor der russischen Botschaft in der Kiewer Innenstadt. Es flogen Steine und Farbbomben; Scheiben gingen zu Bruch. Drei Fahrzeuge vor dem Zaun, angeblich Botschaftseigentum, wurden umgeworfen und demoliert. Gegen Mitternacht – ein beunruhigender Anruf von Maria Tomak, führende Aktivistin im revolutionären „Euromaidan-SOS“-Komitee. Es drohe eine Provokation an der Botschaft – Feuer, und damit ein Vorwand Moskaus, von einem Angriff zu sprechen. „Ich habe ein Fahrzeug gesehen – vollgeladen mit Molotowcocktails“, so Maria.

Angespannte Nerven – das ist mittlerweile Alltag in der Ukraine. Bei der Ankunft vor Ort … eine Überraschung. Die Feuerwehr hat vorbeugend den gesamten Fußweg mit weißem Schaum eingedeckt. Während die Straßenreinigung Trümmerteile der Autos beseitigt, fallen nur noch einige Schaulustige und zahlreiche Hakenkreuz-Schmierereien ins Auge. Die Botschaft: „Faschisten – das seid ihr.“

Die letzten zwei Vertreter eines ukrainischen Nachrichtensenders zeigen sich unzufrieden. Die Aktion sei „nicht zivilisiert“, außerdem von Provokateuren durchgeführt. Im Sinne einer russischen Verwirrungsstrategie. Beweise dafür gibt es nicht. Eher im Gegenteil: Maria berichtet von der Anwesenheit namhafter Politiker. Zwar habe Außenminister Deschtschiza den russischen Präsidenten Putin mit dem üblen Schimpfwort „Chui low“ betitelt … und der Parlamentsabgeordnete Rudkivsky sogar einen Stein geworfen. „Aber es war ein Glücksfall, daß die Menge beruhigt werden konnte.“ Und Rudkivsky sei am Ende selbst mit grüner Flüssigkeit eingedeckt worden – ein Zeichen von Respektlosigkeit der Versammelten für einen von vielen Politikern, die sich „selbst bereichert“ hätten.

Während am Folgetag die Staatsflaggen auf Halbmast wehen, hat der Maidan ein neues Thema gefunden: „Lustration“ – die Forderung nach Entfernung politisch vorbelasteter Offizieller. „Unfähige und illoyale Kräfte in der Führung sind mitschuldig an der verfahrenen militärischen Lage im Osten“, so die Demonstranten vor der Bühne von Kiews berühmtem Protestlager.

Nach mehr als einem Monat Pause findet wieder eine „Witsche“ statt, eine traditionelle Diskussionsrunde im öffentlichen Raum. Abstimmungen zu Resolutionen inklusive. Hunderte sind trotz Nieselregens gekommen. Die 34jährige Englischlehrerin Kate übersetzt die Schandrufe gegen sogenannte „Verräter“ wie Innenminister Awakow oder Militärkommandeur Litvin.

Der Maidan hat keine einheitliche Strategie

„Außerdem hoffen wir, daß schnell ein neues Parlament gewählt werden kann“, so die Demonstrantin, die sich die blau-gelbe Nationalflagge über die Schultern geworfen hat. Sie hält einen der von Aktivisten verteilten Handzettel mit der Forderung nach „besenreiner“ Politik in die Höhe. Offene Kandidatenaufstellungen mit freier Personenwahl, eine „transparente Wahlkampffinanzierung“, die Abschaffung der Fünfprozenthürde und die strafrechtliche Verfolgung von Wahlmanipulation verlangen sie. „Der Maidan hat keine einheitliche Strategie mehr“, so Kate. „Kriegsangst und Ärger über den politischen Stillstand bringen uns jetzt wieder zusammen.“ In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden einige der als häßlich kritisierten Barrikaden entfernt … und durch eine solide Mauer aus Betonklötzen ersetzt. Neubürgermeister Vitali Klitschko dürfte verzweifeln. Fraglich, ob die geforderte Auflösung des Parlaments den Demonstranten reicht. Der Präsident hat Neuwahlen bereits in Aussicht gestellt – wenn die Lage es zulasse.

Die ukrainische Politik hat damit begonnen, offen über die Verhängung des Kriegsrechts zu diskutieren. „Bisher gibt es offiziell nur einen Anti-Terror-Einsatz des Innenministeriums“, so der 33jährige Ex-Bauunternehmer Sergij, heute Sprecher des Rechten Sektors. Die berüchtigte Nationalisten-Formation hält seit dem 21. Februar Teile des Postgebäudes am Maidan besetzt. „Dabei“, so Sergij, „kommen wir mit Soldaten viel besser aus als mit den korrupten Polizisten.“ Auf 10.000 Männer und Frauen bezifferte Dmytro Jarosch, Chef der Organisation, seine Anhängerschaft.

Wie viele davon derzeit im Osten kämpften, sei geheim. Von Sergij nur soviel: „Wir haben uns in die staatlichen Einsatzkompanien eingefügt und agieren nicht allein.“ Den Verlust der Krim führt auch er auf Fehlplanungen der Regierungen zurück, die das Militär stets mangelhaft ausgestattet hätten. Angesichts des Stärke des paramilitärischen Rechten Sektors erscheint Sergijs Begründung, warum seine Leute keinen Alleingang zur „Rettung der Krim“ unternommen hätten, bemerkenswert: „Wir wollten keinen richtigen Krieg.“

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