© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

Putins wilder Vorgarten
Moskaus Krisenherde: An der Südflanke des russischen Riesen gärt es gewaltig / Abchasien probt den Aufstand, Ossetien und Transnistrien setzen auf den Krim-Effekt – und alle hoffen auf den wirtschaftlichen Aufschwung
Marc Zöllner

Paradiesisch könnte das Leben in der kleinen Hafenstadt Sochumi sein. Dort, am Ufer des Schwarzen Meeres, nur unweit der hohen Berge des Kaukasus, prägen Palmen und Laubhölzer das Stadtbild. Milde Luft durchzieht die Gassen, das Wasser mißt im Sommer fast 25 Grad. Sochumi lockt jährlich über eine Million Touristen an, die zumeist aus Rußland stammen. Doch die Idylle trügt: Die Stadt ist einer der am heftigsten brodelnden Krisenherde der Kaukasusregion.

Nur wenige Jahre Ruhe war den Abchasen beschieden, als Ende April erneut eine politische Bombe platzte. Rund zehntausend aufgebrachte Menschen zogen zum Palast ihres Präsidenten Alexander Ankwab und jagten ihn aus der Stadt. Als Interimsherrscher installierten sie Raul Chadjimba, einen der prominentesten Anführer des elf Parteien umfassenden Oppositionsbündnisses. Ankwab kündigte aus dem Untergrund seine Rückkehr an, notfalls mit militärischen Mitteln. „Die Sicherheitskräfte stehen auch weiterhin loyal zur Regierung“, drohte Ankwab in einer Fernsehansprache: „Wir werden geeignete Maßnahmen finden, um die Situation wieder zu stabilisieren.“ Ein Bürgerkrieg steht vor der Tür.

Was die Demonstranten trieb, war ein ganzer Forderungskatalog, der sich nicht immer als schlüssig erwies. So warfen die einen Ankwab vor, ein Assoziierungsabkommen mit Rußland über die geplante Aufnahme Abchasiens in die Eurasische Union nicht schnell genug unterzeichnet zu haben. Andere wiederum erhoffen sich vom Umsturz eine stärkere Distanzierung gegenüber Moskau, von dem sich viele Abchasen nicht nur militärisch und politisch, sondern auch ökonomisch abhängig wähnen.

Nicht zu Unrecht: Etwa zwei Drittel des Außenhandels Abchasiens findet mit der Russischen Föderation statt. Das immense Außenhandelsdefizit der kleinen, von Georgien abtrünnigen Republik wird von Moskau immer wieder gern benutzt, um wirtschaftliche Annäherungen beispielsweise an die Türkei zu torpedieren. Hinzu kommen eine grassierende Arbeitslosigkeit, die spürbare Massenverarmung sowie die noch immer zu tragenden Folgekosten des blutigen Bürgerkriegs der 1990er Jahre.

Sochumi war einst größer als heute. Während der Sowjetzeit lebten hier rund 120.000 Menschen. Aufgrund seiner geostrategisch günstigen Lage an der Südgrenze des kommunistischen Weltreichs, geschützt von den Hängen des Kaukasus und mit natürlichem Zugang zur offenen See, diente es als Prellbock im Kalten Krieg. Noch heute zeugen 46 russische Militärbasen rund um die Hafenstadt von seiner militärischen Bedeutung.

Greueltaten belasten das Verhältnis zu Georgien

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zog die Hälfte seiner Einwohner fort, suchte im Westen, in Europa und Übersee nach einer neuen Zukunft oder siedelte in die georgischen Kernländer um. Im anschließenden Bürgerkrieg ab 1992 kollabierte die Stadt schließlich komplett. Unter Eduard Schewardnadse arbeitete Georgien damals an seiner Abkopplung vom postsowjetischen Einflußbereich. Abchasien wiederum strebte nach seiner Unabhängigkeit von Georgien. Der Krieg zwischen den beiden Konfliktparteien, der mit einer Niederlage Georgiens endete, kostete rund 50.000 Menschen das Leben. Rund 200.000 zumeist ethnische Georgier wurden aus Abchasien vertrieben. Massaker unter den verbliebenen Zivilisten folgten, so im September 1993, als abchasische Kämpfer zusammen mit ihren tschetschenischen Verbündeten die georgisch- und griechischstämmigen Einwohner Sochumis auf den Straßen zusammentrieben und an einem einzigen Tag fast 7.000 von ihnen bestialisch ermordeten.

Greueltaten wie diese belasten das angestrengte Verhältnis Abchasiens zum georgischen Nachbarn trotz aller kultureller Verwandtschaft noch immer. Schlimmer noch: Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau, die nach dem Einfrieren der Handelspartnerschaft mit Georgien entstand, verhindert die internationale Anerkennung Abchasiens als eigenständiger Staat. Neben Rußland unterhalten lediglich Nauru, Nicaragua und Venezuela bilaterale Kontakte zu Abchasien; mit keinem dieser Staaten existiert ein nennenswerter wirtschaftlicher Gütertausch.

In seiner isolierten Lage befindet sich Abchasien nicht allein auf dem politischen Flickenteppich des Kaukasus. Auch das offiziell unter georgischer Flagge stehende, de facto aber eigenständige Südossetien arbeitet mit Hochdruck an einer historischen Wiedervereinigung mit der zur Russischen Föderation gehörenden Nordossetischen Republik. Seit dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1922 waren beide Staaten voneinander getrennt. Die Umbrüche in der Ukraine nähren nun die Flammen der nationalgesinnten Osseten auf beiden Seiten der Grenze.

„Hier in Südossetien haben wir aufgeregt die Entscheidung der russischen Führung beobachtet, die Krim wieder mit Rußland zu vereinen“, verkündete der südossetische Präsident Leonid Tibilov Anfang Juni im Interview mit der kremltreuen russischen Nachrichtenagentur Lenta.ru. „Wir freuen uns mit den Menschen der Krim, welche endlich ein Zuhause haben, und haben nun gute Chancen, auch wieder Teil Rußlands zu werden.“

Anders als auf der Krim ist die Zustimmung der südossetischen Bevölkerung zur Wiedervereinigung mit der Russischen Föderation gewiß. Bereits im Januar 1992, genau 70 Jahre nach der Teilung beider Republiken, stimmten in einem Referendum über 90 Prozent der Befragten für den Anschluß an Nordossetien. Bei einer erneuten Abstimmung im November 2006 votierten sogar rund 99 Prozent der Teilnehmer für die Unabhängigkeit ihres Landes von Georgien.

Beide Referenden wurden international jedoch nie anerkannt. Erstere nicht, weil Südossetien zur damaligen Zeit unter russischer Militärbesetzung stand. Bei letzterer wiederum unterbanden südossetische Separatisten die Teilnahme georgischstämmiger Einwohner an der Wahl. Überdies befürchtete die Staatengemeinschaft das Auslösen eines Flächenbrands im Kaukasus, sollte der Wunsch Südossetiens nach Souveränität anerkannt werden. Aus diesem Grund schlug auch Moskau bis zum Ausbruch des Georgienkriegs von 2008 den Südosseten immer wieder unmißverständlich die Tür vor der Nase zu und verwies insbesondere auf die prekäre Lage in den autonomen Republiken Rußlands, Tschetschenien und Ingutschetien, wo muslimische Separatisten in mehreren bewaffneten Konflikten die Unabhängigkeit von Moskau erprobten.

Für den Kreml stellte sich in dieser Situation die Frage, welches Gebiet sich als wertvoller erweisen würde. Die Antwort wollte man in Südossetien nie hören. Daß die vorwiegend in der Landwirtschaft und hier insbesondere im Obst-anbau tätigen Osseten Moskau nichts wirtschaftlich Handfestes zu bieten hatten, war jedoch einer der glücklichen Umstände, die bislang verhinderten, daß das multiethnische Pulverfaß Kaukasiens explodierte. Wladimir Putins Politik der eigenmächtigen Grenzrevisionen Rußlands könnte nun gerade in der Kaukasusregion als Zündfunke wirken und die Konflikt um den Status Abchasiens und Südossetiens zum gesamteuropäischen Konflikt ausweiten.

Denn nicht nur die Ukraine, auch Georgien strebt engere Beziehungen mit der Europäischen Union an. Bereits Ende Juni will Brüssel mit der Regierung in Tiflis ein Assoziierungsabkommen unterzeichnen. Die Versuche Rußlands, schrittweise verlorene Heimaterde wieder einzusammeln, beträfen dann auch die Bürger Westeuropas sowie die Nato als Schutzbündnis vieler ihrer Staaten.

Rußlands Milliarden für die Krim locken als Vorteil

Ins Spannungsfeld gerät neben Georgien auch die seit gut 20 Jahren von Moldawien abtrünnige, jenseits des kleinen Flusses Dnister gelegene und hauptsächlich von ethnischen Russen bewohnte Republik Transnistrien. Auch hier beherrschen ausländische Subventionen in Rubelform die Binnenwirtschaft, auch hier sehnt sich das Gros der Bevölkerung nach einem Anschluß an den ehemaligen Mutterstaat. Bei den Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs verkündete Moskau bereits sein Interesse an einer Aufnahme des 500.000 Einwohner zählenden Gebiets in die Föderation und sandte den russischen Vizepräsidenten Dmitri Rogosin zur Inspektion nach Tiraspol, der inoffiziellen Hauptstadt des Landes. Dort bedankte man sich mit einer Vielzahl an Transparenten. „Unsere Zukunft ist bei Rußland“, steht in patriotischen Lettern nun auf den Bussen der Stadt.

Was die Völker von Transnistrien bis Südossetien eint, ist vor allem die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung ihrer bislang von den eigenen Regierungen vernachlässigten Heimaten. So stemmte Moskau für viele ethnische Russen in der Diaspora vorbildlich die Reparatur der vom Bürgerkrieg zerstörten Häuserfront der Innenstadt von Sochumi. Nicht wenige Kaukasier, Ostukrainer und Moldawier profitieren von erleichterten Visa- und Zollbedingungen mit der Föderation. Auch die milliardenschweren neuen Investitionen Rußlands auf der Krim locken als Vorteil.

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