© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

„Karriere auf Blut gebaut“
Vierzig Jahre nach seinem Tod: Der sowjetische Marschall Georgi Schukow hatte zu Unrecht einen Feldherrn-Nimbus
Jürgen W. Schmidt

Kein sowjetischer Militär stand Stalin im Zweiten Weltkrieg so nahe wie Marschall Schukow (1896–1974). Als früherer zaristischer Dragonerunteroffizier konnte Schukow im Gegensatz zu Stalin sogar reiten und nahm hoch zu Roß als dessen Vertreter am 24. Juni 1945 die „Parade des Sieges“ in Moskau ab. Trotzdem mußte der nach dem Sieg im „Vaterländischen Krieg“ übertrieben selbstbewußte Schukow gleich zweimal die Ungnade sowjetischer Selbstherrscher spüren. Während Stalin ihn nur als Kommandeur des kleinen Militärbezirks Odessa ab Juni 1946 weit weg von Moskau verbannte, schickte Chruschtschow seinen selbstherrlichen Verteidigungsminister Schukow schließlich 1957 in den Ruhestand. In Moskau verstarb Schukow 17 Jahre später am 14. Juni 1974 kummergeplagt im Kreis der Familie.

Obwohl heute in Rußland als militärischer Genius gefeiert, hinterließ der Marschall kein einziges militärwissenschaftliches Werk. Selbst seine mittlerweile in 12. Auflage erschienenen zweibändigen Memoiren „Erinnerungen und Gedanken“ hat Schukow nicht selbst verfaßt. Viktor Suworow bewies in seiner furiosen, denkmalstürmerischen Schukow-Biographie „Der Marschall des Sieges“ (Donezk 2008), daß sich jede der zwölf Auflagen von der vorangegangenen unterscheidet und gemäß den Anforderungen der Tagespolitik immer aufs neue umgeschrieben wurde.

Operative Kunst nur mit fünffacher Überlegenheit

In militärischen Führungskreisen war der gelernte Kürschner Schukow als Wüterich gefürchtet. Der Luftwaffen-Hauptmarschall Alexander Golowanow merkte dazu an: „Wenn er nur grob geflucht hätte, nun gut, das kommt vor im Krieg. Aber er bemühte sich zu unterdrücken, den Menschen zu erniedrigen. Ich erinnere mich, er fragte einen General: ‘Was bist du für einer?’ – Der General stellte sich vor. Darauf antwortete er: ‘Du bist ein Sack voll Scheiße, aber kein General.’ Schukow machte es nichts aus, ein Gespräch mit einem Generalleutnant mit den Worten zu beenden: ‘Auf Wiedersehen, Oberst!’“ Gegenüber Offizieren wurde der kompakt gebaute Marschall schnell handgreiflich und war auch mit standrechtlichen Erschießungen freigebig, wenn er dies, wie bei seiner ersten selbständigen Operation am Chalchin-Gol 1939, zur Erhöhung der Kampfmoral für geboten hielt (600 Erschießungen in 104 Tagen). Selbst beim Umgang mit gleichrangigen Militärs schreckte Schukow vor Übergriffen nicht zurück. Mit seinem Intimfeind Marschall Iwan Konjew leistete sich Schukow sogar öffentlich eine peinliche Rangelei.

Die Feldherrnqualitäten von Schukow wurden von seinen Sowjetkollegen nicht hoch eingeschätzt. Der damalige General und spätere Marschall Andrej Jeremenko schrieb Anfang 1943 in sein Tagebuch: „Man muß sagen, Schukowsche operative Kunst, das heißt immer die fünf- bis sechsfache Überlegenheit an Kräften zu haben, ansonsten fängt er gar nicht an. Er kann einfach nicht in der Unterzahl kämpfen, und seine ganze Karriere ist auf Blut gebaut.“ Nur kurz vorher, im November/Dezember 1942 hatte nämlich Schukow mit seiner üblichen „Rammbock“-Taktik bei Rschew erfolglos mehrere hunderttausend Soldaten im Kampf gegen die 9. Armee von Walter Model geopfert, während der eigentlich nur als Ablenkung zum Schukowschen Angriff gedachte sowjetische Entlastungsvorstoß bei Stalingrad die deutsche Ostfront aus den Angeln hob.

Bei Kursk 1943 konnte der örtliche Befehlshaber Konstantin Rokossowski über Schukows Entscheidungsschwäche nur verächtlich den Kopf schütteln. Als er nämlich den als „Aufpasser“ von Stalin geschickten Schukow um sein Einverständnis zum Schießen einer großen Artillerieattacke wegen des unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs bat, riet Schukow nur doppeldeutig: „Handeln Sie gemäß den Umständen“ und verdrückte sich schnell vom Ort der Entscheidung.

Als Oberbefehlshaber der 1. Belorussischen Front im Frühjahr 1945 vor Berlin opferte Marschall Schukow mit ungeheuer blutigen Frontalangriffen auf die Seelower Höhen bedenkenlos viele hundert Panzer der 1. und 2. Gardepanzerarmee, nur um vor seinem Konkurrenten Marschall Konjew Berlin zu erobern. Bereits 1994 schrieb der russische Historiker I. Bunitsch kritisch: „Schukow hat sich schon lange in einen Mythos verwandelt. (...) Die 26 Millionen (sowjetischen) Gefallenen existieren irgendwie unabhängig von Schukow und er unabhängig von ihnen. Aber eine so ungeheuerliche Zahl an Gefallenen schluckt unausweislich den Mythos vom ‘Großen Feldherrn’.“

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