© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

Hilfstruppen des Schreckens
Nordafrikaner in der Armee der Franzosen verübten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Kriegsverbrechen
Karlheinz Weissmann

In der vergangenen Sommerausgabe von Lettre International erschien ein Beitrag von Rita El Khayat über die Lage in ihrer marokkanischen Heimat. Dabei dürfte nur wenigen Lesern ein Begriff aufgefallen sein, den sie verwendete, als sie auf die mentale Prägung jener Männer zu sprechen kam, die das nordafrikanische Land in die Unabhängigkeit führten: „maroquinades“. Was man dem Text immerhin entnehmen konnte, war die Tatsache, daß der Dienst vieler junger Marokkaner in der französischen Armee während des Zweiten Weltkriegs mehr bedeutete als die Einsicht, daß Weiße sterblich sind und das Mutterland auf die Überseegebiete und deren Ressourcen zurückgreifen mußte, um sich gegen den Feind zu behaupten.

Es ging auch darum, daß diese Soldaten und Unteroffiziere eine Gewalterfahrung mitbrachten, die viel von ihrer späteren Rücksichtslosigkeit erklärte. Was damit genau gemeint war, hat El Khayat nicht ausgeführt, entweder weil sie voraussetzte, daß die Tatsachen hinter dem Begriff „maroquinades“ allgemein bekannt sind, oder, wahrscheinlicher, weil sie weiß, unter welchem Tabu das Geschehene steht.

Massive Greueltaten an italienischen Zivilisten

Zwischen April und Juni 1944 bestand die Hälfte des in Italien gelandeten französischen Expeditionskorps aus Soldaten der „Afrikanischen Armee“, das heißt in erster Linie Marokkaner und Algerier, aber auch Tunesier sowie die „Senegal-Schützen“. Unter den Marokkanern gab es neben Regulären auch „Goums“, das heißt Einheiten, die in bestimmten Regionen des Landes rekrutiert worden waren und als Truppenverband zusammenblieben. Am 14. Mai 1944 erreichten sie als Teil der 1. Division der freien französischen Streitkräfte die deutschen Stellungen und nahmen an der Schlacht um Monte Cassino teil.

Obwohl Italien zu diesem Zeitpunkt schon die Fronten gewechselt hatte und auf die Seite der Alliierten übergetreten war, kam es nach dem Ende der Kämpfe vor allem aus den Reihen der Goums zu massiven Übergriffen auf die italienische Zivilbevölkerung. Die Diebstähle, Brandschatzungen und Vergewaltigungen erreichten ein derartiges Ausmaß, daß sich Papst Pius XII. am 18. Juni 1944 mit einer persönlichen Botschaft an den französischen Oberkommandierenden de Gaulle wandte und darum bat, seine Verbände strenger zu disziplinieren.

Tatsächlich hat die französische Militärgerichtsbarkeit bis zum Folgejahr 160 Verfahren wegen Ausschreitungen gegen italienische Zivilisten eröffnet. Diese Zahl erscheint aber erstaunlich klein, verglichen mit der Menge an Tatvorgängen. So berichtete der Bürgermeister von Esperia in der Provinz Frosinone, daß in seiner kleinen Ortschaft 700 Frauen vergewaltigt, einige auch getötet wurden, der Priester, der einige der Opfer zu schützen versuchte, wurde überwältigt, mehrfach sodomiert und starb an den Folgen. Nach den Aussagen englischer Beobachter überfielen marokkanische Soldaten Frauen und Mädchen auf offener Straße, dasselbe widerfuhr in vielen Fällen jungen Männern, während man ältere mißhandelte und kastrierte.

Das italienische „marocchinate“ wurde zum stehenden Begriff, kann aber nicht als isoliertes Phänomen betrachtet werden. Bereits bei der Besetzung Siziliens war es zu ersten Vorfällen gekommen – Vergewaltigungen, Verstümmelungen an den Genitalien, Morde – und die Ausschreitungen setzten sich fort, bis die französischen Truppen Norditalien erreichten; selbst Angehörige der Resistenza konnten ihnen zum Opfer fallen.

Im Grunde gehörten auch die Massenvergewaltigungen nach der Einnahme des württembergischen Freudenstadt am 16. April 1945 in diesen Kontext. Allerdings gab es niemals eine derartige Massierung der Vorfälle wie in der Region La Ciociara im südlichen Latium. Die Ursachen dafür sind bis heute ungeklärt. Die Authentizität eines Flugblatts in arabischer Sprache, das auf Veranlassung des französischen Generals Alphonse Juin an die afrikanischen Truppen verteilt worden sein soll und ihnen die Einwohner samt Eigentum auslieferte, wird bis heute bestritten (ein Original-exemplar konnte nicht nachgewiesen werden, nur Abschriften), aber offenbar waren die nordafrikanischen Truppen der Überzeugung, daß sie gemäß eigenem Kriegsbrauch mit den Besiegten nach Gutdünken verfahren konnten, ohne daß ihre weißen Offiziere dagegen irgend etwas unternahmen.

Aufarbeitung widerspricht der Politischen Korrektheit

Im italienischen Kollektivgedächtnis hat „marocchinate“ bis heute eine feststehende Bedeutung. 1957 veröffentliche Alberto Moravia seinen Roman „La Ciociara“, der von Vittorio De Sica mit Sophia Loren in der Hauptrolle verfilmt wurde (deutsch „Und dennoch leben sie“). In Castro dei Volsci hat man das Denkmal der „Mamma Ciociara“ errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer nachhaltigen Belastung der französisch-italienischen Beziehungen, als Paris sich trotz aller Vorstellungen weigerte, in irgendeiner Weise für die Verbrechen Verantwortung zu übernehmen.

Anfang des Jahres 1950 erklärte die kommunistische Frauen-Union Italiens, daß ungefähr 12.000 Frauen Opfer der Soldaten des französischen Expeditionskorps geworden seien. Diese Angabe ist wahrscheinlich übertrieben, aber 1996 traf der italienische Senat die Feststellung, daß man von 2.000 vergewaltigten Frauen und etwa 600 Männern auszugehen habe.

Seit der Veröffentlichung von J. Robert Tilly über Vergewaltigungen durch amerikanische GIs während des Zweiten Weltkriegs ist wenigstens grundsätzlich geklärt, daß nicht nur die sowjetischen Truppen beim Vormarsch nach Westen zahlreiche Verbrechen begingen. Von einer wirklichkeitsgerechten Vorstellung ist man aber nach wie vor weit entfernt. Ein Hauptgrund liegt im Fall der „maroquinades“ auch darin, daß es nicht nur um das Problem der Disziplinlosigkeit geht, sondern auch darum, daß es eine politisch-korrekte Betrachtung verbietet, darauf hinzuweisen, was es bedeutete, Kämpfer einzusetzten, die nicht durch europäische Vorstellungen von Kriegsrecht und -brauch bestimmt waren, sondern durch sehr viel archaischere Ideen darüber, was dem Sieger erlaubt ist.

Foto: Parade französischer „Goums“ aus Marokko, Monte Cassino 1944: Selbst Papst Pius bat um Mäßigung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen