© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

Mach dir’s selbst
Selfies: Termin beim Fotografen war gestern – Das Ich ist meine Welt
Bernd Rademacher

Alles begann mit einer durchzechten Nacht. Am 13. September 2002 lud Nutzer „Hopey“ ein Selbstporträt im Forum der australischen Plattform ABC Online hoch. Es zeigte seine Lippe, die mit drei Stichen genäht war. Hopey schrieb, er sei betrunken gestürzt und habe sich die Lippe aufgeschlagen. An die Forumsgäste richtete er die Frage, ob sich die Fäden auflösen könnten, wenn er die Naht häufig mit der Zunge anfeuchte. Zur Illustration hatte er seine dicke Lippe mit dem Smartphone fotografiert. Er entschuldigte die schlechte Bildqualität mit dem Eintrag: „Sorry, it was a selfie“.

Aus dem Suff-Unfall wurde ein weltweiter Medientrend. Das Oxford English Dictionary, gewissermaßen der britische Duden, wählte die Wortschöpfung Selfie zum Begriff des Jahres, weil sich der Gebrauch in den sozialen Online-Netzwerken in kurzer Zeit vervielfachte. Seitdem steht Selfie für ein digitales Selbstporträt, das in sozialen Medien wie Twitter oder Facebook veröffentlicht wird.

Heute wird rund um den Globus in die eigene Handykamera gegrinst. Ob Promis oder Pubertierende – alle Welt knipst sich selbst auf der Suche nach Bestätigung durch „Gefällt mir“-Klicks. Je ausgefallener die Hintergrundsituation, desto besser. Der japanische Nasa-Astronaut Akihiko Hoshide machte sogar ein Selfie im Weltraum; wobei die Foto-Manie der Japaner ja bekannt ist.

Ist nun in dieser Medien-Marotte ein Symptom von Dekadenz zu sehen, von zügellosem Exhibitionismus? Schon alte Meister wie Dürer und Rembrandt malten Selbstbildnisse, Dürer sogar ausgesprochen zahlreich. In den siebziger und achtziger Jahren war es unter Freunden und Pärchen beliebt, sich gemeinsam in die Fotofix-Kabinen zu quetschen, die in jeder Bahnhofshalle standen. Bei Münz­einwurf produzierte die Apparatur vier Selfies auf einem Streifen Fotopapier. Die Selbstporträtknipser im Internet folgen dem berühmten Motto Andy Warhols, nach dem jeder für ein paar Minuten ein Star sein kann. Bei Jugendlichen, die im pubertären Hormonstrudel von Selbstzweifeln treiben, dürfte die Findung der eigenen Identität im Mittelpunkt stehen.

Tja, beim Autofahren hört der Spaß auf ...

Inzwischen hat sich ein bunter Strauß von Untergenres entwickelt. So zum Beispiel die „Helfies“ (aus Hair + Selfie), auf denen die bizarren Frisuren der Urheber im Mittelpunkt stehen. Oder die „Welfies“ (Workout + Selfie), bei denen der Fotograf als muskulöse Sportskanone posiert. Oder die „Felfies“ (Farmer + Selfie), auf denen Landwirte sich gemeinsam mit ihrem Lieblingstier knipsen: Kühe, Schweine, Pferde oder Schafe grienen ahnungslos in die Linse. Dafür gibt’s von den Internetmädels besonders viele virtuelle Herzchen.

Leider haben Selfies manchmal böse, sehr böse Folgen. Die Meldungen über verunglückte Autofahrer, die Unfälle bauen, weil sie in die Handykamera statt auf die Straße schauen, nehmen rasant zu. Wie die von drei Mädchen im Iran, die beim Autofahren ein Selfie-Video von sich machten – das Filmchen endet abrupt mit dem Knall der Airbags. Die nächsten Selbstbilder luden sie aus dem Krankenhaus ins Netz ...

Der amerikanische Bergsteiger John All stürzte in eine Gletscherspalte und filmte sich selbst spektakulär mit blutiger Nase gefangen im Eis. Blutige Nasen zeigt vor allem das Selfie-Subgenre der „Drelfies“, der Drunk Selfies. Und damit kehrt die Geschichte wieder an ihren Anfang zurück ...

Fotos: Die Muskeln gestrafft fürs Welfie: Absonderliche Lust auf sich selbst; Farmer’s Selfies – ein tierischer Fototrend: Gruppenbild mit Dame; Im kühlen Naß: Lächeln besser mit geschlossenem Mund; Das Ur-Selfie: Die dicke Lippe vom Sturz im Suff ins Forum gestellt. So banal können Trends beginnen ...; In der Blüte der Jugend: Wenn die Viecher wüßten, daß sie auf Facebook berühmt werden ...

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