© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Die Hemmschwelle sinkt
Verfassungsschutzbericht: Linksextremisten und islamistische Fanatiker bereiten den Behörden zunehmend Sorge
Christian Schreiber

Alle Jahre wieder: Wenn Bundes-innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Behördenchef Hans-Georg Maaßen den aktuellen Verfassungsschutzbericht vorlegen, dann konzentriert sich das mediale Interesse auf das Verhalten der rechtsextremen Szene. Diese wird dann als „besorgniserregend“ und „akut gewalttätig“ charakterisiert. Eher beiläufig wird anschließend erwähnt, daß die größte Bedrohung für die Demokratie von Islamisten ausgehe und daß Linksextremisten zunehmend Jagd auf Polizisten machten.

Die 384 Seiten starke Druckversion liefert bei der Analyse über die ultrarechte Szene wenig Neues. Die NPD verliert weiterhin an Mitgliedern, aktuell umfaßt sie nur noch rund 5.500 Parteigänger, und ihre Integrationskraft auf die sogenannten „Freien Kräfte“ ist gebrochen. „Sie hat finanzielle Probleme, sie ist zerstritten, aber dennoch ist die NPD nach wie vor eine zentrale Stelle innerhalb der rechten Szene“, sagte de Maizière, und VS-Präsident Maaßen stellte einen leichten Rückgang des rechtsextremen Personenpotentials auf 21.700 Anhänger (minus 450) fest. Davon seien aber knapp 10.000 latent gewalttätig.

Den Anstieg ausländerfeindlicher Gewalt stellte der Bundesinnenminister in einen Zusammenhang mit dem Anstieg an Asylbewerbern in der Bundesrepublik: „Es besorgt mich sehr, daß die rechte Szene unablässig versucht, die Stimmung gegenüber Fremden zu vergiften, indem sie Ängste und Vorurteile gegen Asylsuchende schürt“, sagte de Maizière, der die Strategie der NPD, Proteste eines Teils der Bevölkerung gegen Flüchtlingsheime zu radikalisieren und für ihre Ziele zu nutzen, scharf kritisierte: „Die NPD unterstreicht damit einmal mehr ihre Verfassungsfeindlichkeit und belegt, daß das Verbotsverfahren gegen sie nötig ist.“

Insgesamt verzeichnete der Verfassungsschutz 16.557 Straftaten (2012: 17.134) mit rechtsextremem Hintergrund. Darunter befinden sich allein 11.639 Propagandadelikte wie Schmierereien oder das Rufen von verbotenen Parolen. De Maizière stellte generell eine größere Gewaltbereitschaft extremistischer Täter fest. „Den Anstieg von Gewalttaten können wir nicht hinnehmen“, erklärte er: „Wir werden mit allen Mitteln des Rechtsstaats gegen Gewalttäter vorgehen.“

Die NSA spielt kaum eine Rolle

Denn vor allem im linksextremen Spektrum sei die Bereitschaft zur Gewalt gegen den Staat und seine Repräsentanten besorgniserregend. Dort notierten die Verfassungsschützer einen Anstieg von 26,7 Prozent auf insgesamt 1.110 Gewalttaten. Inklusive nichtgewaltsamer Straftaten wie etwa Sachbeschädigung oder Nötigung nennt der Bericht eine Gesamtzahl von 4.491 linksextremistisch motivierten Straftaten: „Anlaß zur Sorge gibt die teilweise niedrige Hemmschwelle, Gewalt auszuüben, die namentlich vor allem bei linksextremistischen Akteuren zu beobachten ist. Insbesondere Polizisten sind immer wieder Zielscheibe linksextremistischer Gewalt“, heißt es in dem Bericht. De Maizière verwahrte sich gegen den Vorwurf, die Statistik sei verfälscht, weil Verstöße gegen das Versammlungsgesetz etwa bei Demonstrationen gegen Neonazis auch gezählt würden: „Der Anstieg ist so oder so enorm. Und die Blockade gegen eine genehmigte Demonstration ist und bleibt ein Gesetzesverstoß.“

Nach dem Attentat auf das jüdische Museum in Brüssel nehmen die Sicherheitsbehörden die Gefahr von Anschlägen islamistischer Rückkehrer aus Syrien und dem Irak besonders ernst. Bei der Vorstellung des Berichts sprach de Maizière von mehr als 320 islamistischen „Gotteskriegern“, die aus Deutschland nach Syrien gereist sind, um dort zu kämpfen. Rund einhundert seien mittlerweile wieder zurückgekehrt. „Aus einer abstrakten Gefahr ist eine konkrete tödliche Gefahr geworden in Europa – mit Deutschland-Bezug“, sagte de Maizière. Dabei sei der Anschlag eines Einzeltäters – wie in Brüssel – besonders schwer zu verhindern: „Wir sind wachsam, aber eine absolute Sicherheit kann und wird es nie geben.“

Diese Einschätzung der Gefahr durch islamistische Extremisten hat unmittelbar nach Vorstellung des VS-Berichts für eine kontroverse Debatte gesorgt. Der Erlanger Islamexperte Jörn Thielmann sagte der Nachrichtenagentur dpa, allein 31.000 sogenannte Islamisten gehörten zur Gemeinschaft Milli Görüs, die seit Beginn ihrer Existenz in Deutschland noch nie durch Gewalt aufgefallen sei. Im Verfassungsschutzbericht 2013 wird das „islamistische Personenpotential“ in Deutschland aktuell mit gut 43.000 angegeben. Der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer behauptete sogar, daß „das Islamismuspotential aufgeblasen“ werde. „Durch dieses In-die-Ecke-stellen verhindert man, daß die islamischen Gemeinden mit ins Boot geholt werden, um gemeinsam gegen Radikalisierung vorzugehen.“

Die Aktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA in der Bundesrepublik spielen für die deutschen Behörden übrigens keine nennenswerte Rolle. VS-Chef Maaßen erklärte auf Nachfrage, daß dem Verfassungsschutz bislang keine Erkenntnisse darüber vorliegen würden, daß ausländische Nachrichtendienste gegen deutsche Gesetze verstoßen haben.

Kommentar Seite 2

Foto: Linksextremisten bei einer gewalttätigen Demonstration in Hamburg (2013): „Der Anstieg ist enorm“

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